44. Letters

3.7K 391 300
                                    

Seth


Bereits seit einigen Tagen hatten wir nichts mehr von Sienna gehört, weder Harvey noch ich. Normalerweise meldete sie sich wenigstens bei einem von uns beiden, um ein Lebenszeichen von sich zu geben. Doch als ich versuchte, sie gestern anzurufen, startete eine Ansage mit dem Hinweis, dass die gewählte Rufnummer nicht vergeben sei. Ich flippte total aus und nachdem Harvey mich ein wenig beruhigt hatte, rief ich Gwenny an. Sie fiel natürlich aus allen Wolken, als ich ihr dies erzählte.

„Vielleicht hast du dich verwählt?", lautete ihre Aussage, welche ich jedoch sofort dementierte.

„Nein, das kann nicht sein, denn Siennas Nummer ist ja in meinem Handy eingespeichert."

„Warte, ich rufe sie mal an, ok?"

Auch Gwennys Bemühungen scheiterten, denn als sie mich fünf Minuten später wieder zurückrief, konnte sie genau das bestätigen, was mir widerfahren war. Langsam begannen wir uns Sorgen zu machen, alle drei. Harvey schlug schließlich vor, nach Greenwich zu fahren, um nach dem Rechten zu sehen. Doch niemand öffnete uns dort die Tür. Da ich jedoch einen Ersatzschlüssel besaß, den ich selbstverständlich mitgenommen hatte, betraten wir die Wohnung auf eigene Faust.

Auf den ersten Blick wirkte alles normal und nichts schien zu fehlen. Sogar der Glaswürfel, welchen wir ihr zu Weihnachten geschenkt hatten, stand an seinem Platz. Ebenso hing das Bild aus Alexander Rossis Galerie über der kleinen Kommode im Flur. Aber als Harvey ins Badezimmer lief, stellte er fest, dass solche Dinge wie Zahnbürste und Hygieneartikel nicht mehr vorhanden waren. So, als hätte sie eine Reise angetreten.

Gwenny, die inzwischen auch eingetroffen war, weil es ihr keine Ruhe ließ, konnte sich ebenfalls keinen Reim daraus machen.

„Ich verstehe das nicht", sagte ich. „Sienna hat keinerlei Andeutungen gemacht, dass sie vielleicht wegfahren möchte."

„Wir müssen zur Polizei gehen", warf Harvey ein.

„Damit müssen wir bis morgen warten", erklärte ich. „Denn sie greifen das erst auf, nachdem jemand vierundzwanzig Stunden verschwunden ist."

„Aber das ist sie doch!", kam es von Gwenny.

„Nein, für die Polizei ist sie das erst ab morgen Abend, denn wir haben heute erst ihr Verschwinden festgestellt", meinte ich und fuhr mir nachdenklich durch das Haar.

Die Angst um meine kleine Schwester schnürte mir langsam die Kehle zu.

Sienna und ich hatten uns immer gut verstanden und besonders in letzter Zeit. Sicher reagierte ich anfangs entsetzt bezüglich ihrer Schwangerschaft, doch das hatte sich im Laufe der Zeit gelegt. Nun war ich an dem Punkt angelangt, dass ich es nicht mehr erwarten konnte, Onkel zu werden. Und vielleicht wuchs gerade deswegen meine Sorge zu einem unendlich riesigen Berg heran. Was, wenn meiner Schwester etwas zugestoßen war?

„Hör zu Seth, ich werde morgen bei euch vorbeischauen und dann beratschlagen wir, was wir tun. Wir können ja zu dritt zur Polizei gehen, falls sie sich bis dahin nicht gemeldet haben sollte", schlug Gwenny vor.

„Das klingt vernünftig", meinte Harvey, in dessen Augen bereits die Tränen glänzten. „Hoffentlich ist meinem Schnuckelchen nichts passiert." Unendlich leise und traurig kamen die Worte über seine Lippen.

„Ok, Gwenny, so machen wir es. Wann willst du bei uns sein?"

„Sagen wir gegen fünf. Ich werde morgen ein bisschen eher von der Arbeit nach Hause gehen."

In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht, dachte ständig an Sienna. Seit unsere Eltern sich getrennt hatten, hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel und egal welches Problem sie mit sich herumtrug – sie war immer zu mir gekommen, um zu reden. Selbst die Schwangerschaft, deren kurioses Entstehen mich die Haare raufen ließ, hatte sie mir gebeichtet.

Black RoomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt