S E V E N

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Harry

Es muss viel Zeit vergangen sein, sicher einige Stunden, in denen ich wie paralysiert auf meine Hände starre. In denen ich die tief ausgeprägten Linien meiner Handinnenflächen studiere. Ich weiß nicht sicher, welche Antworten ich durch sie ersuche, und ob ich überhaupt Antworten erwarte. Ich weiß nur sicher, dass die direkte Begegnung mit ihr mich schneller aus der Bahn geworfen hat, als ich es vor unserer Begegnung für möglich gehalten hätte. Ich habe den schwach schimmernden Schein ihrer Verletzlichkeit hinter dem nebligen, faden Schleier ihrer dunklen Iriden aufblitzen sehen, die stumme, unausgesprochene Resignation aus ihren angriffslustigen Worten herausgehört, und den scharfen Ton der Gleichgültigkeit, den dumpfen Klang der Monotonie ihrer Stimme herausgefiltert. Ich habe mich wie jemand gefühlt, der nach Gold gräbt, der voller Hoffnung an einen guten Ausgang glaubt, und auf Granit stößt.

Ich habe gespürt, wie vollkommen unerwartet ähnlich wir uns sind, wie hoffnungslos, wie verbittert unser beider Denken ist, wie wenig aufgehoben wir uns in der Mitte der Gesellschaft fühlen, und wie wenig Lust wir haben, uns darauf einzulassn, jemand zu sein, der akzeptiert wird und Anerkennung findet. Wir wollen uns nicht verstellen, wollen uns nich vorschreiben lassen, jemand zu sein, der wir nicht sein wollen, ungeachtet der Konsequenzen.

Aber noch etwas sehr essentielles, sehr entscheidendes habe ich gespürt, etwas, das meinen über all die vielen vergangenen Jahre sorgsam durchdachten Plan unverhofft in Frage stellt: Wer bin ich, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelten will, wer bin ich, dass ich ihr Leben genauso zerstören will, wie einst meines zerstört wurde?

Ich bin niemand.

Niemand zumindest, der dieses Recht jemals für sich beanspruchen dürfte. Denn Leben ist wertvoll, Leben ist kostbar, Leben ist endlich, und ich habe kein Recht ihres willentlich zu zerstören.

Und doch bin ich mir sicher, ich werde nicht aufhören können, selbst wenn ich es jemals tief in meinem Herzen wollen würde. Es wird solange kein Ende finden, bis ich nicht endlich die Genugtuung gefunden habe, nach der ich mich seit jenem einem Tag, der mein Leben einschneidend verändert hat, mit jeder Faser meines Körpers verzehre.

Ich muss ihr Leben zerstören, um mein Leben wieder lebenswert zu machen. Ich muss ihres zerstören, um meines vielleicht irgendwann einmal überhaupt wieder lebenswert machen zu können.

Ich sehe auf, als mein Smartphone neben mir aufblinkt und dieser vertraute Signalton ertönt, der den Eingang einer Nachricht verkündet.

Es ist eine Nachricht von ihr.

Ich schlucke schwer, schließe die Augen für einen kurzen Augenblick und besinne mich auf meinen ursprünglichen Plan, denke daran, was mir angetan wurde, und das ich nicht zweifeln darf, niemals, und spüre wie ich zur Ruhe komme, wie der Rhythmus meines Herzen wieder im Einklang mit meiner ruhigen, gleichmäßigen Atmung schlägt.

Stella: Du hast deinen Willen bekommen. Ich schreibe dir... notgedrungen. Ich verlange, dass du mein Tagebuch sofort herausgibst und mit sofort meine ich auch sofort!!! Ich warne dich, Freundchen, wehe, du hast es gelesen, das ist Privateigentum!!! Stella.

Ich tippe auf Antworten.

Ich: Sei einfach heute Abend um sieben auf dem Football Court hinter der Sportfakultät. Harry.

***

Stella

Ich weiß nicht, was er damit bezweckt hat, mein Tagebuch mitzunehmen. Was wollte er damit, wollte er mir nur einen jungenhaften Streich spielen, einen solchen, den nur zehnjährige, kleingeistige kleine Jungen begehen, um ihre ältere Schwester gehörig auf die Palme zu bringen?

Blackshattered ▪ H.S. #everlight2k20Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt