T E N

332 30 120
                                    

Harry


Natürlich ist niemand auf dieser Welt perfekt. Jeder Mensch macht einmal Fehler. Manche weniger, manche mehr als andere. Aber manche Fehler sind nie wieder rückgängig zu machen. Manche Fehler dürfen nicht verziehen werden. Manche Fehler zerstören Existenzen. Und diese Fehler sind es, die nicht ungestraft bleiben dürfen. Niemals.

_____

"Hast du schon was herausgefunden?", fragt mich Niall, der mit verschränkten Armen hinter mir auftaucht und sich gegen den Türrahmen lehnt.

Ich spanne die Kiefermuskeln an. "Nein."

Niall runzelt nachdenklich die Stirn. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie er sein Päckchen Tabak und die entsprechenden Utensilien aus seiner hinteren Jeanstasche fischt. Ganz offensichtlich um sich eine Zigarette zu drehen.

Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf das Bild, an dem ich die vergangenen vier Stunden lang gearbeitet habe. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mit dem Resultat so richtig zufrieden sein soll.

Es wird ihr nicht gerecht. Es erfasst nicht die unzählig vielen verschiedenen Dimensionen, in denen ihre einnehmende Erscheinung wandelt. Ich kann sie nicht allesamt erfassen. Noch nicht, denn das wird sich sehr bald ändern.

Ich kann mir dennoch nicht erklären, wieso es mich fast schon schmerzlich in den Fingern gejuckt hat, sie einzufangen und für immer auf meiner Leinwand festzuhalten. Sie ist schön, aber distanziert, kaltschnäuzig und überhaupt nicht die Sorte Mädchen, die mich für gewöhnlich fasziniert.

Aber letztendlich mache ich das alles auch nicht, um ihr Herz für mich zu gewinnen. Ich bin ihr aus einem vollkommen anderen Grund auf den Fersen.

Um Abstand von meinem Werk zu gewinnen, rutsche ich mit dem Stuhl zurück. Das Holz schabt über den Boden. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Stuhllehne und ahme Niall nach, verschränke die Arme vor der Brust. Gedankenversunken fahre ich mit dem Finger über meine Lippen.

Meine Augen werden wieder von diesem hypnotisierenden Blick aus diesem großen, blaugrauen Augen angezogen, die den Betrachter zu durchbohren scheinen. Zwei stechend klare Eiskristalle, die sich wie heiße Nadelstiche in meine Haut brennen. Tätowierungen verewigt auf meiner prickelnden Haut, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen.

Mir wird unweigerlich bewusst, dass ich mich aus dem Bann ihres Blickes winden muss, bevor er mich gefangen nimmt. Denn einmal gefangen, könnte es fast unmöglich sein, die verlorene Freiheit wieder zu erlangen. Ich weiß, ich darf es nicht darauf ankommen lassen. Allein, um mich selbst zu schützen.

Aber vor allem ist Stella nur das nützliche Mittel zum eigentlichen Zweck. Rache.

"Und wie sieht nun deine weitere Vorgehensweise aus?", meldet sich Niall wieder zu Wort.

Ich drehe den Kopf in seine Richtung und zucke mit den Schultern. Auf meine Lippen legt sich die Art von berechnendem Lächeln, die bei mir grundsätzlich nie Gutes verheißt. Es gibt keinen konkret ausgetüftelten Plan. Bis dato wusste ich stets, was ich zu tun habe, ab dato muss ich mich nun darauf verlassen, dass die Fügungen des Schicksals mir in die Hände spielen.

Ich werde darauf hoffen müssen, dass alles so kommen wird, wie es am Ende kommen soll.

"Nun ja, der nächste Schritt wäre wohl, sie kennen zu lernen und ihr Vertrauen zu gewinnen, oder?"

Niall zieht an seiner Zigarette und tritt in die Mitte des Ateliers. Rauchen ist im Atelier nicht erlaubt, aber Niall stört es nicht, ob er damit die Vorschriften verletzt. Solange ihn niemand erwischt, muss er mit keinen Konsequenzen rechnen, und er braucht wiederum nicht mit Konsequenzen zu rechnen, wenn er nicht in der unmittelbaren Gegenwart des Lehrpersonals auffällig an seiner Zigarette zieht. In seinen Augen ist diese Logik nahezu unerschütterlich.

Blackshattered ▪ H.S. #everlight2k20Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt