Kapitel 3 - Die Tallos

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Kapitel 3

Die Tallos


~Sabrina~

Mile und Sabrina standen wie angewurzelt vor der langen Tafel, die waagerecht im Saal platziert worden war und auf der sich das Essen nur so türmte. Lauter undefinierbares, dampfendes Zeug. So viel, dass sich ein ganzes Wolfsrudel daran sattfressen könnte.
Eine alte Frau und ein ebenso alter Mann im Rollstuhl sassen nebeneinander an der Mitte des Tisches.
Wie konnten ihre Adoptiveltern nur so alt sein? Gab es da keine Altersbeschränkung? Für Gruftis ab sechzig nichtmehr im Handel erhältlich, oder so...
Sabrina hatte das Gefühl, von der Frau durchbohrt zu werden, hielt aber dem stählernen Blick stand. Mile legte seine Hand auf ihre Schulter. Ja, sie würden das überstehen.
»Guten Morgen Frau und Herr Tallo«, sagte Mile, nach den schier endlosen Sekunden des stillen Anstarrens.
»Mrs. Tallo und Mr. Tallo«, verbesserte die Frau ihn mit einer Stimme, die selbst eine Schnecke mit Angina Pectoris in die Flucht geschlagen hätte. Sabrina hätte sich am liebsten die Augen und Ohren zugehalten, doch sie beschränkte sich auf ein erschrockenes Zusammenzucken.
Das fing ja gut an...
»Ich... Ich verstehe nicht...«, stammelte Mile verwirrt.
»Tut mir Leid, Junge, aber meine Frau besteht auf ihre amerikanischen Wurzeln«, rief der Mann. Seine Stimme war voll und warm. Sofort fühlte sich Sabrina viel wohler und geborgener. Als hätten die Worte des Alten Mr. Tallos eine Sonne in ihr aufgehen lassen. Ganz anders als bei der Frau...
Sabrina suchte den Blick des Mannes mit der netten Stimme, doch der starrte stur die Wand an. Eigenartig...
Also zwang sie sich wieder der Frau zuzuwenden.
Das graue Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gebunden. Sie trug ein altmodisches, schweres Kleid, das keinen Ausschnitt besass, sondern eng an ihrem Hals lag. Ihr Gesicht war so runzlig, wie ein fauler Apfel und die Falten an ihren Mundwinkeln zeugten von einem akuten Mangel an Humor.
Doch was Sabrina am meisten abstiess, waren die Augen der Hausherrin. Sie lagen in tiefen Höhlen und waren so dunkel, dass man sofort das Gefühl bekam, in zwei tiefe Löcher zu starren.
»Nun Liebes, erzähle mir, was du siehst«, rief der Mann nun und seine Stimme dröhnte durch den Speisesaal. Etwas pikiert über die Lautstärke, mit der ihr Gemahl sprach, lenkte die Alte ihren Blick wieder auf Sabrina und Mile. .
»Nun ja, es sind, wie du weisst, ein Knabe und ein Mädchen. Genau, wie du es wolltest, Tobias. Der Junge ist gross und von sportlicher Natur. Blasse Haut, rotbraunes Haar«, berichtete Mrs. Tallo und verzog das Gesicht. »Natürlich so ein moderner Haarschnitt. Er hat jedoch wache Augen. Grün. Angezogen ist er auch mit diesen primitiven, modernen Kleidungsstücken. Wenigstens trägt er keine dieser lächerlichen Kopfbedeckungen und seine Hose hängt ihm auch nicht an den Kniekehlen. Jeans, war ja klar. Und das Hemd hat er natürlich nicht zugeknöpft. Wenigstens trägt er ein T-Shirt darunter.«
Sabrina musterte ihren Bruder. Er sah für sie alles andere als heruntergekommen aus, was in ihrem Fall wirklich nicht selbstverständlich war. Im Waisenhaus hatte man wenig darauf geachtet, was Mode war, geschweige denn, ob die Klamotten die richtige Grösse hatten oder zueinander passten. Man hatte angezogen, was gerade sauber war und, wenn es möglich war, nicht ganz so bescheuert ausgesehen hatte.
Doch ihre Eltern hatten ihnen Geld hinterlassen und zwar nicht wenig. Ausserdem hatte ihr Pater darauf geachtet, dass es ihnen an nichts fehlte.
Ja, der Pater. Er war der engste Vertraute der beiden Geschwister gewesen. Immer hatte sich der alte Prediger besonders um Mile und Sabrina gekümmert, denn er war ein alter Freund ihrer Eltern gewesen, mehr wussten sie nicht von ihm.
Der Pater. Sie würde ihn vermissen.
Mile trug ein schwarzes Hemd, das ihm locker um die breiten Schultern viel. Es war offen und das weisse T-Shirt mit V-Ausschnitt lag eng an seinem Körper, was seine muskulöse Brust betonte. Die Jeans hingen an seinen schmalen Hüften und wurden durch einen Gürtel daran gehindert, herunter zu rutschen. An seinen Füssen leuchteten die roten Convers, auf die er lange gespart hatte.
Schlampig? Nein! So war Mile nicht!
»Und das Mädchen?«, fragte Mr. Tallo und grinste in Richtung Mile.
Was sollte das eigentlich? Wieso liess sich dieser Alte von seiner Frau erklären, wie sie beide aussahen? Das war doch bescheuert!
Doch dann fiel es Sabrina wie Schuppen von den Augen: Mr. Tallo war blind!
Die Alte richtete ihren Laserblick auf Sabrina und rümpfte die Nase.
»Dunkelblond. Störrisches Haar, das sie offen trägt. Blaue Augen. Sie ist klein und dürr. Sie ist mit Schmuck in Form dieses billigen Modeplunders geschmückt, wie ein Weihnachtsbaum. Sie trägt eine Bluse und darüber eine Lederjacke. Kindchen, bist du eine dieser Motoradgirls oder was? Und darunter diese widerlichen, engen Jeans! Und natürlich auch diesen Convers-Mist!«, quasselte die Alte.
Sabrina schnappte nach Luft.
Motoradgirls? Modeplunder? Widerliche Jeans? Was hatte die Alte gegen Lederjacken? Und die Jeans war stretch, mehr nicht! Und der Modeplunder? Ja, klar, Ohrringe von dem Trödelladen, der in der Nähe des Waisenhauses gestanden hatte. Aber das Medaillon, das um ihren Hals hing, hatte ihrer Mutter gehört! Sie trug es sowieso meist unter dem Oberteil versteckt, da es sehr protzig war.
Gut, nun war sie sich sicher. Sie mochte diese aufgeblasene, alte Schachtel nicht!
Mile neben ihr schien sich köstlich zu amüsieren und verbarg sein Lachen hinter einem vorgetäuschten Hustenanfall. Der alte Mann lachte auch. Ohne Husten.
»Ach Margret, lass die jungen Leute doch. Wir waren damals doch auch so wild. So, jetzt Kinder, bin ich dran! Ich bin Tobias Alfons Tallo, aber bitte nennt mich Onkel Tobi. Und das ist meine Frau Margret...«, begann er, doch seine Schreckschraube von Frau unterbrach ihn.
»Onkel Tobi?! Nein! Mr. Tallo! Und ich bin Mrs. Tallo! Verstanden?«, rief sie schrill.
»Klaro«, erwiderte Mile lässig.
»Total«, fügte Sabrina hinzu. Irgendwie verstand Sabrina die Alte. Margret war ja auch ein echt beschissener Name...
»Gut, dann begebt euch zu Tisch!«, rief die alte Schrulle.
Sie setzten sich den Tallos gegenüber und wichen nervös den bösen Blicken der Alten aus.
Während die Mrs. Tallo sich irgendwelches schwarzes Zeug aufs Brot schmierte, lehnte sich der nette Mann über den Tisch und zischte: »Onkel Tobi.« Dann zwinkerte ihnen zu. Seine starren Augen waren silbrig grün, aber die Pupillen hatten eine milchig weisse Farbe angenommen.
Sabrina nahm sich eine Scheibe Toast und suchte vergeblich nach einem Glas Nutella. Mile dagegen schien von allem probieren zu wollen. Er nahm sich von da und dort ein wenig und schliesslich entschied er sich für einen Kaviar-Toast, ein gekochtes Papageienei oder so und etwas von den gerösteten Froschbeinen.
Sabrinas Magen rebellierte und sie grabschte schnell nach einer Kanne Kaffee mit Sojamilch.
»Nelly wird euch heute das Anwesen zeigen und die Regeln des Hauses erklären.
Tanja wird am Nachmittag mit euch ins Dorf fahren und euch etwas mit der Umgebung bekannt machen«, erklärte die Hausherrin kühl und nahm mit abgespreizten Fingern ihre Teetasse in die Hand.
»Fer if Tanfia?«, fragte Sabrina mit vollem Mund. Sie grinste, als sie den angewiderten Blick der Alten sah.
»Tanja ist die Gärtnerin und so etwas wie unser Mädchen für alles«, erkläret Onkel Tobi. »Ihr werdet sie mögen!«
»Und wann gehen wir zur Schule?«, fragte Mile und seine Augen blitzten.
»Streber«, zischte Sabrina ihm zu.
Schule bedeutete Mathe. Und Mathe bedeutete jede Menge Kopfschmerzen.
»Ja, Schule, Miss Beltran! Ich habe mir erlaubt, einen Blick in Ihre Zeugnisse zu werfen und ich war alles andere als erfreut!«, schnauzte Mrs. Tallo sie an.
Sabrina zog eine Schnute und dachte: Heul doch!
Dann wandte die Alte sich an Mile und ihr Gesichtsausdruck wurde ein wenig freundlicher.
»Ich war beeindruckt von Ihren Noten, Mr. Beltran. Ich habe natürlich schon von ihrem Pater von Ihrem Talent gehört und doch war ich erfreut, beim Anblick Ihrer Leistungen«, schnatterte die Alte.
»Also... Äähm... Okay!«, murmelte Mile und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum.
»So eine Arschkriecherin«, zischte Sabrina.
»Wie bitte? Haben Sie etwas gesagt, Miss Beltran?«, fragte Mrs. Tallo.
»Oh, ääh... Nö, tut mir Leid...«, stotterte Sabrina und wurde rot, als sie den halb erheiterten, halb mahnenden Blick des Alten auf sich spürte. Wie konnte man sich von einem Blinden so beobachtet fühlen?
Na toll.
Ihr neues zu Hause war zwar echt toll... All der Luxus und so, aber ihre neuen „Eltern" waren total zum Heulen! Na gut, Onkel Tobi war ganz in Ordnung, aber diese alte Schachtel...
Schlimmer konnte es nichtmehr kommen, oder?
Der Wolf, den Sabrina in der letzten Vollmondnacht im Schatten des Waldes gesehen hatte, war längst vergessen...


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Hallöchen, ich bin wieder da!

Vielen Dank für eure Votes und vor allem für die lieben Kommentare :D

Liebe Grüsse,
Eure Dreamtravel

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt