Kapitel 50 - Der Herzkasper

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Kapitel 50

Der Herzkasper


~Sabrina~

Sie hatte einen Bruder. Mile. Er war ihre einzige Familie gewesen, ihr einziger Halt in der Welt. Sechs Jahre waren ihr mit ihren Eltern geblieben. Sechs Jahre voller Glück, Liebe und Familie.
Sabrina war schon immer anders gewesen. So still, verschlossen und irgendwie... zurückgezogen. Sie hatte nie mit Gleichaltrigen gespielt, immer versucht sich so unsichtbar wie möglich zu machen und hatte kaum gesprochen. Bestimmt hatten sich die anderen Kinder vor ihr gefürchtet, sie als komische Einzelgängerin abgestempelt, doch eigentlich war ihr das egal gewesen. Sie hatte es ja auch so gewollt. Freunde hatte sie nicht gebraucht.
Nur zu Hause war sie aufgetaut. Nicht in der Spielgruppe, nicht im Kindergarten oder sonst wo. Nur bei ihrer Familie war sie gerne gewesen...
Bei Mom, Dad und Mile hatte sie glücklich sein können. Natürlich war sie auch dort noch immer still, verschlossen und einzelgängerisch gewesen. Trotzdem hatte Sabrina bei ihrer Familie ihr wahres Gesicht, die stille, aber auch glückliche, schlaue und offenherzige Sabrina, die sie nur bei ihrer Familie sein konnte, zeigen können.
Ja, zu Hause war sie sie selbst gewesen. Dort hatte sie glücklich sein können...
Dann waren sie verschwunden.
Von einem Tag auf den anderen waren sie alleine gewesen. Sie und ihr Bruder. Mile und Sabrina. Alleine.
Das hatte sie verändert. Sie war noch stiller geworden, hatte sich vollkommen zurückgezogen. Ihre Verschlossenheit hatte sich in ein latentes und kaltes Misstrauen verwandelt. Aus der Vorliebe, alleine zu sein, hatte sich in eine Hassliebe entwickelt. Einerseits hatte sie niemanden an sich heranlassen wollen, andererseits hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als jemanden zu haben, mit dem sie... dieses Chaos, diesen Schutthaufen, der sich ihr Leben genannt hatte, zu bewältigen.
Mile hatte schon immer auf sie aufgepasst. Er war mit viel Empathie gesegnet und das schon als Kind. Als Sabrina sich immer tiefer in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hatte, immer tiefer in der Einsamkeit versunken war, wie in einem dickflüssigen, grausamen und schwarzen See aus Trauer, Misstrauen und Hilflosigkeit, hatte Mile Himmel und Hölle in Gang gesetzt um sie zu retten. Mehr als jemals zuvor hatte er sich um sie gekümmert. Wie ein Vogel, der aus dem Nest geflogen war, hatte er sie wieder aufgepäppelt. Irgendwann hatte sie wieder lächeln können, doch niemals wieder hatte sie das Gefühl gehabt, Boden unter den Füssen zu haben. Von jeher hatte sie der Wunsch, die Sucht nach Familie geplagt. Mile war der unglaublichste Bruder, den man sich wünschen konnte, selbst wenn er des Öfteren etwas übertrieb mit seinem Beschützerinstinkt, doch er konnte ihre Eltern nicht ersetzen. Sie und Mile gegen den Rest der Welt. Trotzdem hatte sie auf ewig der Gedanke geplagt, niemals wieder eine richtige Familie zu haben.
Tja, bis sie in dieser Welt gelandet war.
Hier hatte sie gefunden, was sie sich so lange ersehnt, gewünscht und gesucht hatte. Liebe, die ihr zugleich Boden unter den Füssen und Flügel zum Fliegen gab. Freunde, mit denen sie lachen und weinen konnte. Eine Familie, die zwar unglaublich verdreht, verrückt, aber auch genial, wundersam und liebevoll auf ihre eigene Art war.
Sie hatte sie sich so sehr gewünscht und hatte sie bekommen, ihre Familie.
Eine Tante, haufenweise Cousins und eine Cousine.
Die Cousins bestanden aus einem Haufen verstossener, krimineller Raben. Ihre Tante war eine verrückte, eiskalte und mit Sicherheit psychotische Massenmörderin und ihre Cousine hatte nichts Besseres zu tun, als sie dieser kranken Frau und ihren fünf Killerfreunden auf dem Servierteller zu präsentieren.
Tolle Familie!
Nur warum? Wieso hatte Mondkind das getan?
Mit ihrer Cousine stimmte etwas nicht, das war Sabrina von dem Moment, als sie sie das erste Mal gesehen hatte, klar gewesen. Mondkind bewegte, sprach und verhielt sich nicht wie ein vierjähriges Mädchen. Manchmal schien sie tatsächlich wie ein Kind zu sein, kicherte und redete wirres Zeug, doch dann sah man ihr in die Augen. Eine Iris, die die Farbe von Amethyst hatte. In Mondkinds Blick lag eine fantastische Intelligenz und uralte Weisheit. Ihr Verstand schien der einer weisen alten Frau und zugleich eines kleinen Kindes zu sein.
Mondkind war verrückt und schuld daran war Königin Damaris. Hätte diese Königin doch nur keinen Fluch auf die sieben Jungs gelegt...
Sabrina dachte an das Gespräch zurück, das sie damals mit Nebelfinger im Baum der Verstossenen geführt hatte. Ihr Cousin hatte ihr zu erklären versucht, wieso Mondkind, seine Brüder und er ihr leben bei den Verstossenen hatte leben müssen. Selbst ihr hatte er nicht verraten können, was diese Hexe, die irgendeinen schrecklichen Preis von Mondkind verlangt hatte. Dieser Preis, der ihre Cousine für immer verändert hatte und sie zu dieser Verrückten hatte werden lassen, nur weil die Kleine ihre Brüder von diesem Raben-Fluch hatte retten wollen! Aber wieso machte Nebelfinger so ein Geheimnis aus dieser Geschichte? Wieso verriet er niemandem, was das für ein Preis gewesen war? Na gut, Nebelfinger hatte ihr auch geraten, Mondkind immer zu vertrauen, komme was da wolle. Vielleicht hatte der Albinojunge auch nur übertrieben?
»Unsinn, Blutkralle. Rumpel hat schon immer irgendwas im Schilde geführt. Von Anfang an!«, rief eine neue Stimme durch den Saal. Es war eine Frau. Allein an der Art wie sie sprach, war herauszuhören, dass sie extrem arrogant sein musste.
»Woher willst du das wissen, Königin? Er war es schliesslich, der uns die Prophezeiung über die Rückkehr der Herrscher offenbart hat«, antwortete eine neue Stimme. Sie war männlich und hatte eine vornehme Art, dafür einen unheimlichen Klang.
Sabrina versuchte die Stimmen den Dunklen zuzuordnen. Eril hatte ihr vor langer Zeit, als sie auf dem Weg durch das Labyrinth nach LaRuh gewesen waren, von ihnen erzählt. Da waren die böse Königin Damaris, ihre Schwester die Hexe Hedwig, der Werwolfhäuptling Blutkralle, der Vampir Graf Dracula, ihre Tante Nevis die Eiskönigin und Corda die Herzkönigin.
»Denkt doch bitte mal nach. Er hat uns zwar die Prophezeiung gegeben, doch er hat sie nicht übersetzt«, antwortete die arrogante Frauenstimme, deren Besitzerin zuvor mit ‚Königin' angesprochen worden war, worauf Sabrina schloss, dass dies Königin Damaris sein musste.
»Vielleicht hat er selbst nicht gewusst, was die Prophezeiung bedeutet«, knurrte nun eine tiefe, männliche, kratzige Stimme, die dem Werwolf Blutkralle gehören musste.
Die vornehme Männerstimme antwortete: »Wieder einmal typisch Werwolf. Manchmal frage ich mich wirklich, wie ein solcher Intelligenzallergiker wie du zum Häuptling eines so mächtigen Clans gewählt werden konnte. Oh stimmt ja, ich vergass: Bei deiner rückständigen Spezies wird der Anführer ja nicht gewählt. Der Anwärter muss ja erst seinen Vorgänger umbringen, um selbst Häuptling zu werden...«
Das schien Blutkralle gar nicht zu gefallen, denn er knurrte und ein Knacken und Poltern war zu hören.
»Runter vom Tisch, du Hund!«, rief die Königin. »Und verwandle dich gefälligst wieder zurück in deine menschliche Gestalt. Und du, Dracula, wirst endlich mit diesen Sticheleien aufhören! Dies hier ist der Zeitpalast und kein Kindergarten.«
Doch Dracula dachte nicht daran aufzuhören. Er lachte, wie die Axtmörder es in Horrorfilmen tun, und rief: »Rumpelstilzchen war, bevor er den Verstand verloren hat, weil er seine Frau und das ungeborene Kind umgebracht hatte, zusammen mit seinem Bruder der Hüter der Prophezeiungen. Glaube mir, du dummer Köter, Rumpelstilzchen weiss ganz genau, was diese Prophezeiung zu bedeuten hat.«
Sabrina runzelte die Stirn. Rumpelstilzchen war ein Hüter der Prophezeiungen gewesen? Ihr Vater hatte ihr damals in der Starre erzählt, der Hutmacher würde dieses Amt momentan innehaben. Der Kerl war verrückt geworden, nachdem er Frau und Kind gekillt hatte? Um so was zu tun, musste man doch eigentlich bereits schon verrückt sein oder etwa nicht? Nur gut, dass dieser schreckliche Kerl jetzt nicht mehr der Hüter war und der Hutmacher nun alleine diese Stellung innehatte.
So viele Rätsel. So unglaublich viele Fragen, die sie ihren Freunden stellen würde, wenn sie wieder Aramesia aufwachen würde. Falls sie jemals wieder zurückkäme.
»Aber er hat uns doch die Prophezeiung übersetzt«, meinte nun eine neue Stimme. Es war diese verrückte Frauenstimme vom Anfang. Jene, die die ganze Zeit davon gesprochen hatte, alle umzubringen.
»Nur kleiner, unnützer Teile davon«, antwortete eine neue Person. Die Stimme war ebenfalls weiblich und war sehr klar und irgendwie harmonisch, wie bei einer Radiomoderatorin oder so. Andererseits war sie auch streng und kalt, wirkte beinahe emotionslos.
Sabrina wusste wer das war. Instinktiv wusste sie es.
Nevis. Ihre Tante. Die Schwester ihrer Mutter- Die Blutsverräterin. Die Dunkle.
Die verrückte Stimme widersprach Sabrinas Tante: »Aber er hatte mit dem, was er gesagt hatte, immer absolut Recht. Er sagte, die Kinder der Herrscher werden zurückkehren und das taten sie. Er sagte uns, wie wir unseren Maulwurf einschleusen können und es hat funktioniert. Er sagte, wir müssten den Schlüssel auf dem Schiff des einhändigen Piraten bringen, an den die Eisprinzessin schliesslich wirklich ihr dummes, kleines, aber schmackhaftes Herz verschenkt hat.«
»Reden diese Bekloppten etwa von dir?!«, zischte Faritales und bohrte seine Krallen in ihre Schulter.
Sabrina konnte es selbst kaum fassen. Die Dunklen hatten gewusst, dass sie und ihr Bruder in diese Welt kommen würden? Sie hatten Spione bei den Rebellen eingeschleust? Aber das Schlimmste war natürlich: Die Dunklen hatten sie irgendwie absichtlich zu Hooks Schiff geschickt? Und warum zum Teufel sollte ihr Herz bitteschön lecker sein?! Aus welchem Grund? Wieso nur?
»Corda hat Recht. Ohne Rumpel wären wir vollkommen unvorbereitet auf die Rückkehr der Herrscher gewesen. Ausserdem wären wir niemals auf die Idee mit Cernunnos gekommen. Nicht einmal die Herrscher wissen von seiner Existenz.«, stimmte die böse Königin der Herzkönigin Corda zu.
»Ja, stimmt. Cernunnos, Cernunnos, Cernunnos! Ohne den Teufel würden wir nicht einmal etwas von dem König wissen!«, rief die einzige Dunkle, die Sabrina noch nicht identifiziert hatte. Da sie die Letzte der sechs war, war dies jedoch kein Problem. Es war Hedwig, die Hexe und Schwester der bösen Königin. Ihre Stimme war die einer alten Frau, klang schrill und kratzig.
»Wer ist Cernunnos?«, fragte Sabrina Faritales, doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Aber das alles ist vollkommen nebensächlich, solange wir nicht wissen, welche Macht meine Nichte und Neffe bereits haben!«, rief Nevis. Ein Scharren war zu hören, dann klackten Absätze über den Granitboden.
Sabrina wurde gleichzeitig heiss und kalt. Hoffentlich würde man sie nicht entdecken!
»Das sagst gerade du, Schneekönigin. Du, als Tochter, Schwester und Tante der Eisprinzessinnen, solltest doch am besten von all den Gaben und Fähigkeiten der Herrscher wissen. Du bist mit den Herrschern aufgewachsen. Wie kann es nur sein, dass ihre Gaben selbst vor dir geheim gehalten wurden?«, fragte Dracula mit einem gehässigen Unterton in der Stimme.
Sabrina spitzte die Ohren. Das klang interessant. Anscheinend hatten die Rebellenführer Recht gehabt! Die speziellen Gaben der Herrscher, wie das Traumreisen, Gedankenlesen und derartiges, war über Jahrmillionen vor der Aussenwelt geheim gehalten worden. Jedes Wesen in dieser Welt wusste natürlich, dass die Herrscher der Gezeiten noch viel mehr drauf gatten als Eis und Feuer, doch niemand wusste wirklich etwas Genaues.
Die Schritte kamen näher und Sabrina presste sich mit dem Rücken an die Säule hinter ihr. Der Stein war kalt. Sie biss sich fest auf die Lippe, damit der Schmerz sie von der Angst ablenken würde, doch das tat er natürlich nicht. Die Angst war zu stark. Sie mache ihren Körper taub und lahm.
Das Klacken der Absätze verstummte und Sabrina hörte Nevis, keine zwei Meter von ihrem Versteck entfernt sagen: »Ja, ich lebte mit den Herrschern. Meine Mutter war die Eiskönigin, meine Schwester ebenso und eine Nichte scheint auch eine zu sein. Diese Frauen sind meine Familie, mein eigen Fleisch und Blut. Ich lebte mit ihnen, ich ass mit ihnen und ich sprach mit ihnen. Trotzdem war ich niemals Teil ihrer Welt. Mein Vater war ein Ritter, der schon vor Jahrhunderten verstarb und von dem die Welt noch nie etwas gehört hat. Er war kein Herrscher, nicht einmal eine Märchenfigur. Er lebte sein mickriges Menschenleben und starb. Er starb, und meine Mutter lebte weiter, meine Schwester lebte weiter und ich lebte weiter. Einfach immer weiter. Selbst ich kann mich kaum noch an das Gesicht meines Vaters erinnern.«
Obwohl Sabrina gerade durch alle sieben Höllen ging, konnte sie nicht anders, als ihrer Tante voller Staunen zuzuhören. Nevis sprach da gerade von ihrem... Grossvater!
Nicht Eira und auch nicht ihr Vater hatte ihr jemals etwas von ihren Grosseltern erzählt. Auch sonst niemand verlor je ein Wort über die verstorbenen Generationen der Herrscher und wenn doch, dann nicht viel. Im Unterricht bei Jeremy Topper hatte sie einiges über ihre Vorfahren gelernt, auch Eril hatte ihr vor langer Zeit einiges darüber erzählt, doch was Nevis da gerade erzählte...
Sabrina hatte sich schon oft gefragt, wie die früheren Herrscher so gewesen waren, damals, als sie noch in diesen Hallen gelebt und regiert hatten. Wie waren sie wohl gewesen, als Wächter des Gleichgewichts der Welten, als Menschen, Eltern und Kinder? Waren sie klug, weise, lustig, frech, wild, ernst, verwegen, unsicher, wundervoll, scharfsinnig, feige, düster, peinlich, abergläubisch, rachsüchtig, respekteinflössend, vorsichtig, mutig, unnachgiebig oder gar dumm gewesen? Sie hatte all das wissen wollen, um es ihnen je nachdem nachzueifern oder eben nicht. Sie hatte Vorbilder und Beispiele gesucht, um zu lernen, wie man eine Eisprinzessin war. Was sollte sie tun und was nicht? Was war richtig und was falsch?
Doch die Frage, wie der Teil ihrer Vorfahren gewesen war, der kein Herrscherblut in sich trug, die hatte sie vollkommen ausser Acht gelassen. Ob das immer Menschen gewesen waren? Vielleicht war sie ja zu einem Achtel Elfe, Zwergin oder sogar Werwolf!
Die Schritte der Schneekönigin rissen Sabrina aus ihren Gedanken. Sie musste sich ein erleichtertes Seufzen verkneifen, als sie hörte, dass Nevis sich von ihr entfernte. Dabei fuhr sie fort: »Wenn man ein Herrscher oder eine Herrscherin ist, lebt man in seiner eigenen Welt. Um einen herum sterben die normalen Wesen wie die Fliegen und man selbst lebt weiter und weiter. Ich habe sehr an meinem Vater gehangen. Er war ein ganz normaler Mensch. Er liebte seine Frau und Kinder und anders als ich konnte er akzeptieren, dass es für eine Eisprinzessin offene Türen gibt, die für andere geschlossen bleiben. Meine Mutter und meine Schwester hatten viele Geheimnisse vor uns. Oft ritten sie zu zweit weit weg, ohne uns zu sagen, wohin oder warum. Manchmal sahen wir sie tagelang nicht. Eira und ich waren uns als kleine Mädchen sehr nahe gestanden, bis sie schliesslich ihre Ausbildung zur Herrscherin begonnen hatte. In jener Zeit bin ich sehr einsam gewesen, doch mein Vater hatte immer sein Bestes gegeben, um sich um mich zu kümmern. Wenn weder meine Mutter noch meine Schwester Zeit für mich hatten, sorgte er dafür, dass es mir gut ging. Er war da, wenn ich ihn brauchte, denn auch er war von seiner Frau und Tochter aus der Welt der Herrscher ausgeschlossen. Für ihn war das in Ordnung, doch ich war immer so neugierig. Ich hatte Eira jeden Abend über ihren Tag ausgefragt, doch sie hat niemals irgendetwas verraten. Schliesslich hatte mein Vater sein kurzes Menschenleben gelebt und er starb. Ohne ihn hatte ich niemanden mehr in der Familie, der das gleiche Schicksal hatte wie ich.«
»Eine wirklich tragische Geschichte, wirklich, wirklich furchtbar. Trotzdem wollte das niemand wissen, Nevis. Niemand hat danach gefragt und niemanden interessiert es. Wir wollten lediglich, dass du uns erzählst, wie viel du über die Fähigkeiten der Promenadenmischungen deiner Schwester weisst«, knurrte die tiefe Stimme Blutkralles durch den Saal.
»Gar nichts! Gar nichts weiss ich. Meine Grossmutter, meine Mutter, selbst meine Schwester hat alles vor mir geheim gehalten.«
Die Stimme der Schneekönigin hallte von den glattpolierten Steinwänden wider und das Echo jagte Sabrina einen Schauer über den Rücken. Nevis klang unglaublich kaltherzig. Bitterkalt...
War das der Grund, weshalb ihre Tante die Herrscher hintergangen hatte? Aus Einsamkeit und Eifersucht? Oder was Nevis von Natur aus schlecht? Gab es so etwas? Angeborene Boshaftigkeit? Vielleicht hatten Sabrinas Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter genau darum so viele Geheimnisse vor Nevis gehabt. Vielleicht hatten sie es gespürt.
Es.
Das Böse...
»Wir können doch nicht einfach nichts wissen? Ich meine... wir haben Spione. Dank den letzten Geschehnissen sogar einen, dem die Herrscher vertrauten. Wir haben Informationen. Nicht viele, aber wenigstens ein paar!«, kreischte Hedwig auf einmal.
»Ach was! Gerüchte. Nichts als Gerüchte«, knurrte Blutkralle.
Corda schwärmte: »Ich hörte, die Eisprinzessin könnte durch Raum und Zeit reisen. Ich hörte, der Lichterlord wäre ein Gestaltenwandler. Ein Hautwechsler, der sich in einen gigantischen, schwarzen Löwen verwandeln könnte.«
»Unsinn! Niemand kann durch die Zeit reisen. Nicht in die Vergangenheit und auch nicht in die Zukunft. Was geschehen ist, ist geschehen und was uns erwartet, ist nichts als ein Spiel zwischen Zufall und Schicksal«, widersprach Königin Damaris. Es knarzte, als sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte.
Dracula lachte grausig und rief: »Wir sollten uns nicht streiten, meine Freunde. Soll die Eisprinzessin von mir aus auf Fischen reiten und der Lichterlord Steine fressen können, welche Fähigkeiten auch immer sie haben mögen, all das ist unwichtig. Sobald wir Cernunnos Blut getrunken und uns sein Herz, Lunge, Hirn, Leber, Fleisch und Knochen einverleibt haben, werden wir die mächtigsten Wesen aller Welten sein. Nichts und niemand wird uns noch aufhalten können. Unbesiegbar bis in alle Ewigkeit!«
Unbesiegbar!
Sabrina schluckte. Das alles war eine Katastrophe! Wenn die Dunklen etwas gefunden hatten, was sie absolut unzerstörbar machte, dann... dann war das das Ende! Das Ende von allem. Sie würden alles an sich reissen. Die ganze Märchenwelt würde für alle Ewigkeit unter dem Joch der Dunklen ihr furchtbares Dasein fristen müssen. Es würde nie wieder eine Chance für eine Rebellion geben. Dies war der letzte Krieg gegen die Dunklen, egal wer als Sieger hervorgehen würde. Aber wenn die Dunklen diese Rebellion niederschlagen und somit ungehindert an diese Macht der Unbezwingbarkeit herankommen würden... Es wäre einfach alles verloren. Alles Gute auf der Welt, ja, vielleicht sogar das Guter aller Welten. Die Dunklen würden niemals aufhören, einfach alles einnehmen, vor nichts haltmachen, nicht einmal vor Fremden Welten, die nicht ihnen gehörten.
»Cernunnos, Cernunnos, Cernunnos. Ich werde sein Herz essen. Sein Herz!«, rief Corda und klatschte in die Hände.
»Das wirst du. Wir alle werden es...«, lachte Hedwig und kicherte hämisch.
Cernunnos. Wer war das? Wessen Herz wollten diese bösartigen Wesen essen? Das war einfach nur... widerwärtig und grausam. Wer war dieser Cernunnos? Anscheinend brauchten ihn die Dunklen, um an diese Macht zu kommen. Wer auch immer dieser Cernunnos war, würden sie ihn jemals in die Finger bekommen, dann...
»Riecht ihr das?«, grollte Blutkralle auf einmal. »Könnt ihr das riechen?«
Faritales vergrub sein Gesicht in Sabrinas Haar, um das Wimmern, das ihm entwich, abzudämpfen.
»Was riechen?«, fragte die Herzkönigin angespannt.
Dracula schnüffelte geräuschvoll und brummte dann nachdenklich: »Ja... ja! Du hast Recht, Hund. Hier riecht... nein, es duftet nach... Angst! Wunderbare, qualvolle, grässliche Todesangst!«
Sabrina biss die Zähne zusammen. Einerseits, um nicht vor lauter Panik zu schreien, andererseits, um nicht mit den Zähnen zu klappern, so sehr zitterte sie bereits.
Sie war vollkommen wehrlos! Sie war doch nur ein Mädchen im Pyjama in einem Palast voller Monster. Niemand konnte ihr helfen. Kein Ritter in glänzender Rüstung oder ein Pirat mit glitzerndem Haken würde sie retten können. Sie war vollkommen verloren!
»Ihr Werwölfe und Vampire mit euren unglaublichen Nasen. Manchmal denke ich wirklich, euer abnormes Riechorgan ersetzt euer Hirn! Wir sind die Dunklen. Jeder in diesem Palast hat Angst vor uns. Selbst unsere Verbündeten fürchten sich, in unserer Nähe zu sein. Der Geruch der Angst muss in diesem Gebäude stärker sein, als der Verwesungsgeruch einer Riesenkannibalenschnecke, die in der prallen Sonne liegt!«, lachte Corda und klatschte erneut in die Hände.
»Fari! Was soll ich tun? Sie werden uns finden! Was soll ich nur tun?«, hauchte Sabrina. Natürlich konnte der Dämon ihr keine Antwort geben. Er war genauso starr vor Angst, wie sie selbst.
Ja, es sah wirklich schlecht aus. Sehr, sehr schlecht.
Sollte sie nun jemand entdecken, so wollte sie es nicht wissen. Vielleicht würden diese Dunklen sie ja ganz schnell umbringen. Umbringen, so weit das bei ihr möglich war. Jedenfalls wollte sie nicht sehen, was sie erwarten würde. Darum vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und wartete auf ein schnelles Ende.
Plötzlich fiel rechts von ihr eine Tür ins Schloss und leise, schnelle Tapser hallten von den Wänden wider.
Eine Tür? Rechts von ihr? Sabrina traute sich nicht, aufzusehen, also harrte sie in dieser zusammengekrümmten Haltung aus.
Wer auch immer da über den Granit tappte, er schien sie nicht bemerkt zu haben. Noch nicht, denn es würde ja wahrscheinlich auch ein Rückweg folgen. Ein Rückweg von dem Tisch zurück zu der neuen Tür. Geschirr klapperte und Sabrina erkannte das bekannte Geräusch von Flüssigkeit, die in eine Teetasse gegossen wurde. Dieses Geräusch war fest mit den Erinnerungen an die Unterrichts-Kaffeekränzchen verbunden. Der Hutmacher, wie er aus seinem geliebten Zylinder ein ganzes Tischservice samt Tee und Kuchen zaubern konnte. Mondkind, wie sie verrückte Prophezeiungen und Gedichte vor sich hin trällerte. Hook, wie er sie anlächelte, nur um für sie seine Langeweile zu überspielen und um sie so aufzumuntern. Rosanna, wie sie Mile mit Krümeln und Keksen bewarf und ihn mit ihren Sticheleien zur Weissglut trieb. Hänsel, der sich zusammen mit Faritales und Katmo den Bauch mit Kuchen vollschlug. Nebelfinger, der mit seinem gewohnt ruhigen, aber auch etwas traurigen Blick immer auf seine kleine, verrückte Schwester Acht gab. Bree, wie sie beinahe schon zwanghaft seriös ihrer Pflicht als Leibwache der Eisprinzessin nachging. Red, die Sabrina nun langsam immer sympathischer wurde. Tja und dann war da noch Mile, wie er aus dem Buch über die Herrscher vorlas...
Es tat gut, an ihre Freunde zu denken, doch vergessen konnte sie die Realität nicht.
Doch was sollte dieser Tee? Tranken diese Ungeheuer wirklich während ihrer Sitzungen ganz stinknormalen Tee?
»Du bist spät dran, Kaninchen«, tadelte Corda und schlürfte dann laut.
»Ja, ja! Wie Recht Ihr habt, meine Königin. Oh bitte, verzeiht mir. Es wird nie wieder vorkommen, ganz bestimmt!«, bibberte eine verängstigte, nasale Stimme.
»Natürlich wirst du das, du dummer Bettvorleger. Kommst du noch einmal zu spät, werde ich dich enthaupten lassen«, antwortete die Dunkle hämisch.
Bettvorleger? Kaninchen?
Vorsichtig hob sie den Kopf aus und schielte zu Faritales, der sich vor Stress die Krallen abkaute. Als der Dämon ihren Blick bemerkte, zuckte er die Schultern.
»Worauf wartest du, Osterhäschen? Na los«, rief Hedwig, »zisch ab!«
»Ich könnte ihn auch fressen«, grollte Blutkralle. Ein Klirren, als würde Glas zerspringen.
»Na toll, Hund, jetzt hat er vor Schreck das Tablett fallen lassen«, seufzte Königin Damaris und Corda kreischte: »Heb es auf! Sammle alle Scherben auf! «
»Ja, Königin. Natürlich, meine Herrin...«
Ein Kratzen und Scharren. Glas klimperte. Der ‚Bettvorleger' hob die Scherben auf.
Zum Abschied knurrte Blutkralle, was dem armen ‚Bettvorleger' ein verschrecktes »Huch!« entlockte.
Die Dunklen lachten wie die fiesen Kinder in der Schule, die ihre kleineren und schwächeren Mitschüler plagten.
Der ‚Bettvorleger' tapste wieder an ihr vorbei... und hielt inne.
Ganz, ganz langsam drehte Sabrina den Kopf nach rechts.
Vor ihr stand ein weisses Kaninchen. Es steckte in einem abgenutzten Anzug. Über einer grauen Weste trug er ein dunkelblaues Jackett, das mit Flicken in unterschiedlichen Blautönen wieder zusammengenäht worden war. In der Brusttasche steckte an einer Kette eine silberne Taschenuhr. Der oberste von drei goldenen Knöpfen fehlte. Das linke Hosenbein war zerfetzt und das andere löchrig. Die weissen Schlappohren hingen traurig herunter. Seine Augen leuchteten rot und zuckten hektisch hin und her. Der ganze Körper des Tiers zitterte wie Espenlaub. Vor sich balancierte das Kaninchen auf seinen Vorderpfoten ein Silbertablett, auf dem sich Porzellanscherben türmten.
Das Kaninchen starrte Sabrina an, sie starrte zurück.
Sabrina wurde schlecht vor Angst. Alles in ihr zog sich zu einem Klumpen zusammen, der rau, viel zu heiss und dann wiederrum eiskalt und lähmend war. Jetzt war es aus. Das war also das Ende. Dabei wollte sie noch nicht sterben. Sie wollte nicht gehen. Sie hatte diese wundervolle Welt doch gerade erst gefunden. All ihre neuen Freunde... Das erste Mal glaubte sie, einen Sinn zum Leben zu haben. Sie hatte einen Grund gefunden, für den es sich lohnte zu kämpfen.
»Wir sollten es halten, wie schon gehabt. Rumpel geht seine eigenen Wege. Solange er uns nicht in die Quere kommt, werden wir ihn nicht beachten. Was die Herrscherkinder angeht, sollten wird jedoch aufmerksam bleiben. Unsere Spione werden uns weiterhin Bericht erstatten. Ausserdem sollen sie Phase zwei einleiten und die Marionette aktivieren. Schickt die Traumdämonen sofort los. Zwei Duzend Sandmänner. Sie sollen unsere Spione über alles aufklären. Sie sollen die Gerüchte so schnell wie möglich verbreiten. Ich will, dass sie sofort beginnen. Der Maulwurf soll sich an den Plan halten. Er soll gute Miene zum bösen Spiel machen und erst aktiv werden, wenn seine Zeit gekommen ist«, meinte Königin Damaris mit strenger Stimme. Die anderen Dunklen stimmten ihr zu. Die Worte der Königin schienen Faritales einen gewaltigen Schrecken einzujagen, denn er zuckte zusammen. Kein Wunder! Halfen die Traumdämonen den Dunklen etwa? Und was zum Teufel wollten die mit Sandmännern? Sicherlich waren Sandmänner in dieser Welt keine winzige, weissbärtige und freundliche Marionetten... Und was für Gerüchte sollten verbreitet werden? Was hatte all dies zu bedeuten?
Die roten Augen des weissen Kaninchens zuckten noch immer hektisch zwischen Sabrina und den Dunklen hin und her. Anscheinend traf es gerade eine Entscheidung.
Immer mehr Furcht staute sich in ihr an und schliesslich konnte sie sich nicht mehr halten. Sie lehnte sich so lautlos wie möglich vor, verschränkte ihre Finger ineinander und streckte dem Kaninchen ihre gefalteten Hände entgegen.
»Bitte«, bettelte sie leise und flehend. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Mile. Sie hatte sich nicht wieder mit ihm versöhnt. Wieso nicht? Ja, Himmel, er hatte Mist gebaut, aber er war ihr Bruder. Das war ja irgendwie sein Job! Und wenn sie nun sterben würde... Er würde sich bis an sein Ende mit dem Gedanken quälen, dass sie ihm nicht verziehen hatte...
»Bitte!«, flüsterte sie noch einmal. Vor lauter Tränen konnte sie kaum noch etwas sehen. Alles verschwamm. Trotzdem konnte sie noch erkennen, wie das Kaninchen davoneilte. Samt Tablett, Scherben, Lumpenanzug und Schlappohren.
Sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben! Sie hatte gesehen, was eine Herrscherin im Tode erwartete, wenn keine Nachfolgerin ihren Platz einnahm. Sie würde wie ihre Mutter für alle Ewigkeit in der Starre, der Zwischenwelt verbringen müssen. Sie würde in der Dunkelheit herumirren. Alleine. Ganz alleine...
Wieder knarzte eine Türe. Da war irgendwo eine Türe und sie blöde Heulsuse hatte nicht gesehen, wo, weil sie ja lieber den Granitboden bewässern musste. Bescheuertes Rumheulen!
Sie unterdrückte ein Schluchzten. Obwohl das Kaninchen sie bestimmt nicht mehr hören konnte, hauchte sie: »Ich will noch nicht gehen...«
Und plötzlich war alles schwarz.

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