Kapitel 28
Wer lauert in der Dunkelheit?
~Mile~
»So singt man über den Baum der Toten, ihm die mut'gen Zwerge drohten. Sie arbeiteten hart, sie gruben tief, wo die Wurzel dieses Bösen schlief...«
Der Farn rauschte im Wind. Die Sonne ging gerade unter. Goldenes Licht liess das ganze Land noch märchenhafter wirken, als es tatsächlich war.
»... Sie hackten Holz, das Dunkle schmolz...«
Mile beobachtete den Schimmel, wie er im stolzen Galopp auf die Stadt zu jagte.
Die Stadt.
Aramesia.
Zusammen mit den Monarchen hatte er sich den Grundriss der Stadt genauestens angesehen. Doch in dem Licht der untergehenden Sonne, war sie noch eindrucksvoller, als auf dem Papier.
Der Grundriss der Stadt war rund. Die Stadtmauer war circa zwanzig Meter hoch. Aramesia sah aus wie eine Schüssel. Eine extrem überfüllte Schüssel. Wenn es im Mittelalter so was wie Hochhäuser gab, so fand man sie hier. Haus auf Haus auf Haus auf Haus. Es schien, als hätte man, nachdem es keinen Platz mehr am Schüsselboden der Stadt gegeben hatte, einfach die neuen Häuser auf die Alten drauf gebaut. Verbunden wurden die Hochhäuser mit Brücken.
Das Verkehrsnetz da drin muss der reinste Horror sein, schoss es Mile durch den Kopf.
»...Der Schreckensbaum, er brannte hell, die Toten war'n ein böser Traum...«
»Jetzt hör ma' auf zu singen, ey!«, kreischte Rosanna, die neben ihm kauerte. Der Zwerg ignorierte sie, liess seine Stimme zu einem tiefen Bass anschwellen, um dann wieder in die Alt Stimme hinaufzuklettern.
Mile störte der Zwergen Gesang nicht. Irgendwie gefiel ihm diese Atmosphäre.
Er stupste Rosanna in die Seite, legte den Finger auf die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. Rosanna schnaubte genervt und klapperte mit ihren Wurfmessern.
Mile sah wieder auf die Stadt hinab.
Sie waren etwa zweihundert Meter von dem Monument menschlicher Architektur entfernt. Sie lagen im Gras. Hinter ihnen begann der Wald zu wuchern, vor ihnen breitete sich eine Hügelkette aus. Das Gras leuchtete in einem Saftigen Grün. Links, in weiter Ferne, erkannte man das Blau des Tränensees.
Wenn Mile sich konzentrierte, konnte er das Klappern der Hufe des Schimmels auf dem Kiespfad, der zur Stadt führte, hören.
»... So zog das Zwergenvolk von Dannen, alle Vögel von ihren Heldentaten sangen...«, brummte der Zwerg.
Er war ein stämmiger Kerl, wie es jeder Zwerg war. Sein fuchsroter Bart war so verfilzt, dass er ganz steif war. Er hatte eine dicke Nase, mit gewaltigen Nasenlöchern. Seine Stirn war so zerfurcht, als wäre man ihm mit einem Rächen durch die Haut gefahren.
»... Die Zwerge kehrten huldvoll Heim...«
Rosanna stöhnte demonstrativ laut und liess den Kopf ins weiche Gras sinken.
Der weisse Schimmel hatte die Stadt nun erreicht. Ein kleiner, blauer Punkt hüpfte von dem Rücken des Pferds und gleich darauf dröhnte das »Tröteröööt« eines Trompetenartigen Instruments.
»Der Bote ist jetzt am Stadttor angekommen!«, sagte Mile aufgeregt und sah zu Red hinüber, die links von ihm lag. Sie hatte ihn den ganzen letzten Monat nicht eines Blickes gewürdigt und Mile hatte sie gewähren lassen, hatte es wortlos akzeptiert.
Wenn er eins wusste, dann, dass man eine Frau weichkochen musste. Das hatte er von Sabrina gelernt. Wenn sie Streit hatten, spielte seine Schwester die beleidigte Leberwurst. Doch lange hielt sie das meist nicht aus. Irgendwann kam sie immer zu ihm zurück, um den Konflikt aus der Welt zu schaffen und sich mit ihm zu versöhnen. Wann immer er den ersten Schritt machen wollte, hatte sie ihm die kalte Schulter gezeigt.
Doch mit Red war es irgendwie anders. Wenn Sabrina schmollte, war das manchmal noch ganz lustig, wie sie versuchte, ihn mit demonstrativ verächtlichen Blicken einzuschüchtern. Doch Red schaffte es, durch ihn hindurch zu sehen. Sie behandelte ihn wirklich wie Luft. Das gefiel ihm nicht. Wie sollte er nur mit ihr umgehen?
Als er dann also an diesem Morgen aufgewacht war und noch immer keine fröhliche Red vor dem Zelt stand und ihm einen guten Morgen wünschte, hatte er beschlossen, etwas ändern zu müssen... Darum hatte er veranlasst, dass Red ihn heute begleiten musste. Ob sie wollte, oder nicht.
Man hatte ebenfalls beschlossen, einen Boten nach Aramesia zu schicken. Rein aus Prinzip. Der Bote solle die Nachricht überbringen, dass die Rebellen Anspruch auf Aramesia erhoben und die Stadt besetzen wollten. Es war klar, dass dieser Anspruch abgelehnt werden würde. Darum hatte man rund um die Stadt kleinere Truppen stationiert. Sobald es dunkel werde, würden diese kleinere Truppen in Aramesia einbrechen. Die Stadt hatte zwölf Tore. Postiert waren zwölf Truppen. War man erst einmal in der Stadt, würde der Widerstand schwach sein.
Niemand durfte aus Aramesia hinaus. Die Bewohner waren also Gefangene. Man würde die Übernahme begrüssen. Von den Bewohnern würde niemand kämpfen wollen. Sie mussten nur die Soldaten der Dunklen überwältigen.
»Endlich wieder frisches Blut!«, hörte Mile einen der Vampire hinter sich sagen. Ein anderer fauchte zustimmend.
Mile schauderte. In allen Truppen waren besonders viele Wesen des grauen Volkes postiert. Diese Wesen waren nun einmal geschaffen für die Nacht, für das Dunkle.
Der blaue Punkt - also der Bote - bewegte sich noch etwas weiter von seinem Pferd weg, dann blieb er stehen.
Nervös biss sich Mile auf die Lippe.
»Jetzt bin ich aber gespannt...«, brummte Rosanna neben ihm.
Mile hatte seine Truppen selbst ausgesucht. Denn sie würden das Haupttor angreifen. Rosanna war zwar eine giftige Furie, aber auch ein verdammt zäher Brocken und mit Messern konnte sie umgehen, als wären es bunte Bälle, mit denen man gefahrenlos jonglieren konnte.
Vampire waren zwar gruselig, aber auch stark, schnell und waren die Nacht gewöhnt. Die Zwerge waren kräftig und zäh. Werwölfe waren schnell, kräftig und treu. Und Red? Red war Red. Eine Künstlerin mit dem Schwert, eine wilde Wölfin, eine treue Freundin. Niemandem würde er sein Leben lieber in die Hände geben, als diesem Mädchen. Seinem Mädchen.
Er hatte nicht bemerkt, wie er sie angestarrt hatte. Es war ungewohnt, sie ohne ihren roten Umhang zu sehen.
Ihre Haare waren zu einem Knoten zurückgebunden, doch bereits jetzt hatten sich einige schwarze Strähnen gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Ihr schlanker Körper wurde durch eine leichte Rüstung geschützt. „Leicht" im Sinne von „Nicht schwer", also nicht vollständig aus Metall sondern eine Mischung aus Leder und Metall. Brust und Rückenpanzer bestanden aus Stahl. Arm und Beinschienen waren aus dickem Leder, sehr wahrscheinlich aus der Haut eines Trolls gearbeitet. Sie hatte die Hände in das Gras gekrallt, als wäre sie krampfhaft darum bemüht, keinen Kreisch Anfall zu bekommen und durch den Wald zu rennen.
Als sie merkte, wie jemand sie beobachtete, drehte sie den Kopf.
Sie zuckte zusammen, unterbrach sofort den Blickkontakt zu ihm und wandte sich wieder ab. Sie biss sich auf die Lippe. Ihr Blick war gequält.
Miles Herz triefte vor Enttäuschung.
»Was zur...?!«, rief Rosanna neben ihm und sprang auf.
»Hey! Leg dich sofort wieder hin, oder willst du, dass unsere Tarnung auffliegt?!«, zischte er und klopfte gegen ihre - ebenfalls lederne - Beinschiene.
»Entschuldige mal, Herr Herrscher, aber Euer bemitleidenswerter Bote wurde gerade erschossen!«, zischte die Barbarentochter, warf sich jedoch wieder flach auf den Boden.
»Was?!«, fauchte einer der Vampire hinter ihm.
Fassungslos starrte Mile geradeaus. Der blaue Punkt - Schrägstrich - Bote... Er war nun ein länglicher Fleck auf dem breiten Kiesweg. Der Schimmel scheute, sein Wiehern drang zu ihnen durch, wie ein grauenvolles Echo.
Wieder schrie das Tier. Dann warf es den Kopf zurück und ging zu Boden.
»Und das Pferd haben sie jetzt auch noch abgemurkst«, sinnierte Rosanna scharfsinnig.
»Verdammte Scheisser!«, knurrte ein Werwolf in seiner Tiergestalt. Seine Augen leuchteten dunkelgrün und sehr wütend. Er knurrte.
Beinahe hätte Mile „Aus!" gerufen, besann sich jedoch noch rechtzeitig und sagte stattdessen: »Ruhig, Werwolf! Wir sind noch nicht dran! Jetzt greift erst die... die...«
»Die Truppe im Osten an. Danach geht die Reihenfolge im Uhrzeigersinn nach. Wenn sie bei uns angelangt ist, ändert sich die Reihenfolge und die Truppen im Norden werden aktiv«, vollendete Red seine Erklärung, ohne ihn an zu sehen.
»Danke«, nuschelte er verlegen.
Er dachte an den armen Kerl, der dort draussen lag. Der Bote. Ein Mensch, soweit er wusste. Ein Sterblicher. Er entstammte keinem Märchen. Also war er tot.
Einfach tot.
Mile schloss die Augen.
»Wie heisst ihr?«, fragte er.
»Wie meinst 'n das jetzt?«, schnaubte Rosanna. Sie lag auf dem Rücken und schnitzte teilnahmslos an einem Holzscheit herum.
»Nicht du! Ich meine die anderen. Du, Wolf!«, zischte er, drehte sich um und deutete auf den Werwolf mit den dunkelgrünen Augen. Sein Fell war hellgrau. Er hatte sich neben einem kleineren, kastanienbraunen Wolf zusammengekauert, den Blick auf die Stadt gerichtet. »Wie ist dein Name?«
Der Wolf schien zu zögern, das sagte Mile jedenfalls sein Gefühl. Doch dann sah der Wolf zu ihm auf und brummte: »Sol Frarch. Und das hier ist mein Sohn«, er nickte mit seinem grossen Wolfskopf in die Richtung des braunen Wolfs. Dieser nickte ihm zu und blinzelte ihn aus den gleichen dunkelgrünen Augen an, wie sein Vater sie hatte. »Minkuch«, sagte er ruhig und blinzelte nervös.
Mile nickte ernst und sah zu den drei Vampiren hinüber, die in etwas distanziert neben einem Busch kauerten. Sie trugen keine Rüstungen, sondern hatten sich sehr vornehm gekleidet, als gingen sie auf einen Ball. Waffen hatten die Fangzahnträger keine - Die brauchten sie auch nicht.
»Frederick de Monto«, brummte einer von ihnen knapp. Er steckte in einem schwarzen Frack. Die Frau neben ihm , strich leicht verlegen über ihre spitzenbesetzte Tunika, lächelte und zeigte dabei ihre spitzen Eckzähne, was jedoch nicht unfreundlich wirkte. »Ann-Susann, aber nenn mich einfach Anne«, flüsterte sie. Der dritte Vampir, der in einen dunkelblauen Anzug gekleidet war, sah jünger als seine Artgenossen aus. Seine Haare waren hellblond und seine Gesichtszüge fein. Er konnte kaum volljährig sein. »Fjore«, antwortete er ruhig. Mile konnte seinen Akzent nicht ganz einordnen, schätzte ihn jedoch auf Schwedisch.
Mile nickte auch ihnen zu. Er sprach die Minderjährigkeit des jungen Vampirs nicht an. Vermutlich war er älter als sie alle zusammen. Ausserdem war er selbst auch noch nicht achtzehn.
Der Zwerg sprach, bevor Mile ihn ansah.
»Brutch!«, donnerte er, ohne dabei besonders laut zu sein.
Mile konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er mochte die Zwerge.
Mile sah zu der Elfe. Natürlich war sie wunderschön. Ihre Haare waren weiss wie frisch gefallener Schnee. Die Gesichtszüge fein, wie gemalt. Ihre Augen waren Aschgrau. Abgesehen von Brust-und Rückenpanzer trug sie keinen Schutz. Nur ein blattgrünes Schild, auf das ein goldener Baum gemalt worden war.
»Sookie«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang hell wie klar wie der Gesang einer Nachtigall.
Wieder nickte Mile.
»Ich möchte, dass ihr euch diese Namen merkt. Prägt euch diese Gesichter ein. Mit diesen Wesen werden wir Aramesia befreien.«
Alle nickten. Sogar Red. Er schaffte es, ihren Blick auf zu fangen. Er lächelte sie an. Red sah weg.
»Was zum Hunnenkönig ist da los?!«, fragte Rosanna neben ihm.
Er sah wieder auf die Stadt hinab.
Im Osten war ein Feuer ausgebrochen.
»Scheisse!«, rief er.
»Also ich werde jetzt da rein gehen!«, schnaubte die Barbarin. »Wenn du willst, dass so wenig Unschuldige ums Leben kommen, wie möglich, dann solltest du deinen Herrscher Arsch in Bewegung setzen und angreifen!«
Sie rappelte sich auf, steckte ihre Messer zu den anderen fünfzig zurück in den Gürtel, schnappte sich den Speer, den sie neben sich im Gras liegen gelassen hatte und wetzte los.
Mile fluchte und sprang ebenfalls auf.
»Na dann. Let's fetz!«, rief er, zog Kayat aus der Scheide und stürmte los.
Schon auf halbem Weg tanzte das Feuer in seiner Hand. Die Flammenzungen umschmeichelten seine Finger und knisterten voller Vorfreude. Damit würde er das Tor in die Luft sprengen. Das Feuer würde das Metall fressen und seine Truppe hindurchlassen.
Nun hatte die Rebellion endlich den ersten grossen Schritt gemacht.
Für die Freiheit, für das Gleichgewicht, für diese Welt.
Für seine Eltern.
Er war ein Vermächtnis.
Er war ein Herrscher.
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Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und Eis
FantasyAchtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal...« und hat ein »Happy End«. Nicht alle Prinzessinnen sind wehrlos auf einen Retter in der Not angewiesen. Nicht selten ist das wahre Monster...