Kapitel 80
...dann leben sie noch heute
~Sabrina~
Die Erinnerungen, wie es ihnen gelungen war, aus dem Palast zu kommen, waren nicht mehr als verschwommene Fetzen. Alles was nach Falk geschehen war, hatte der Adrenalinrausch, gekoppelt an das Höhegefühl, den Totgeglaubten wieder an ihrer Seite zu haben, beinahe restlos aus ihrem Gedächtnis gespült.
Sie hatten es nur mit vereinten Kräften aus der Schatzkammer geschafft, jeden mitgenommen, den sie auf ihrer Flucht getroffen hatten und waren die Treppen hinauf, hinauf, hinaus gejagt bis in Sabrinas Gemach, von wo aus sie an Bord der Jolly Roger geklettert waren. Trotz des Sturmes war es ihnen gelungen, das Luftschiff auf Ebene des Thronsaals zu steuern, um wenigstens den Senat - die neue Regierung und Hoffnung Arkans - vor dem Tod zu bewahren. Anschliessend waren sie bis in den späten Nachmittag über Tempus geflogen und hatten nach Überlebenden Ausschau gehalten. Doch auch die Toten hatten sie gerettet, jedenfalls die, die es nur auf Zeit waren. Wie durch ein Wunder hatte das Inkoleum standgehalten. Jeden einzelnen Sarg hatten sie aus dem Gewölbe geholt. Nun waren sie im Lagerraum verstaut. Was für ein unvorstellbares Glück an diesem schlimmsten aller Tage...
Und während dieses gesamten Alptraums hatte Sabrina Falks Hand nicht losgelassen. Nicht, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen war.
Auch jetzt waren sie so gut wie unzertrennlich, klebten jede freie Minute aneinander wie Fouling und Schiffsrumpf, und doch hatten sie noch kein ernstes Gespräch unter vier Augen führen können. Da waren keine freien Minuten mehr. Als gekrönte Herrscherin dieser Welt musste sie andere Prioritäten setzten. Es war keine Zeit zum Reden, geschweige denn zum Schlafen oder Essen.
Der Mix aus Schlafmangel, Hunger und dem Gefühlschaos - bestehend aus Angst, dass diese Welt, die zu ihrem Zuhause geworden war, der Wut auf den Teufel, der aus unerklärlichen Gründen all dies verursacht hatte, und die durch all diese Umstände gedämpfte und sie trotzdem überschlagenden Freude, dass Falk wieder an ihrer Seite war - machte es zu einem Kunststück ihre Konzentration aufrecht zu erhalten und der Katastrophensitzung des geretteten Senats zu folgen.
Jeremy Topper, der kein bisschen ausgeschlafener als sie selbst aussah, hatte sein Flipchart aus dem Hut gezogen und eben begonnen, darauf herumzukritzeln.
Abgesehen vom Hutmacher war niemand anwesend, der nicht zum Senat oder der Blutsverwandtschaft der Beltran-Familie gehörte. Zwar hatten sie auch die Monarchen und glücklicherweise auch alle Mitglieder des einstigen Kleinen Rats gerettet, doch sie hatten die Entscheidung gefällt, dass die Zukunft in den Händen der Regierung liegen sollte, die dafür - wenn auch vor der Katastrophe - gewählt worden war.
»Wir wissen, dass diese Katastrophe durch den wohl schwersten Bruch des Schicksals ausgelöst wurde, den diese Welt je erlebt hat«, plapperte der Hutmacher, während er auf seinem Flipchart ein kleines Das-ist-das-Haus-vom-Ni-ko-laus vorführte und es mit ›Zeitpalast‹ betitelte. »Und da dieser Bruch im Palast geschehen ist, ist er auch das Epizentrum dieser Katastrophe.« Schwungvoll malte er ein paar Kreise um das Strich-Häuschen.
»Das Schicksal?«, fragte Lamia, die Senatorin der Vampire, mit hörbarem Spott. »Seit wann beginnt wegen irgendeinem Aberglauben die Erde zu beben und ein Sturm aufzuziehen?«
Der Hüter hob einen Finger und machte den Mund auf, um die bleiche Senatorin eines Besseren zu belehren, als ihm jemand zuvorkam: »Daran gibt es keinen Zweifel.« Miles Stimme war streng. So streng, dass er fremd klang und Sabrina sich überrascht nach ihm umdrehte.
Er war sehr blass, hatte rote Augen und einige üble Schrammen. Es ging ihm schlecht. Auch er wäre jetzt lieber wo anders oder bei jemand anderem, doch auch er hatte das hintenanstellen müssen. Jetzt war noch nicht die Zeit, den Verlust seines ungeborenen Kindes zu verarbeiten und Trost bei seiner Partnerin zu suchen.
Sabrina griff unterm Tisch nach der Hand ihres Bruders. Sie konnte sich nicht vorstellen, was in ihm vor sich ging. Was sollte sie zu ihm sagen?
»Schon gut, Mylord.« Der Paladin machte eine beschwichtigende Geste in Miles Richtung, ohne den Blick von der Vampirin zu lösen. »Was seid Ihr töricht, mich zu hinterfragen, Senatorin. Ihr wisst so gut wie alle anderen in diesem Raum, dass ich nicht ohne Grund Hüter der Prophezeiungen genannt werde. Das ist kein Geheimnis.«
»Und doch glaube ich nicht ans Schicksal.« Lamia verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn in die Höhe.
»Ich bitte Euch. Wenn Ihr eine andere Erklärung für die Katastrophe dort draussen habt, dann nur zu! Teilt sie uns mit!«
Die bleiche Senatorin verengte die Augen zu schlitzen und rümpfte verachtend die Nase, sodass die Spitzen ihrer Eckzähne zum Vorschein kamen, doch sie schwieg.
»Na bitte«, seufzte der Hüter der Prophezeiungen und wollte sich wieder seinem Flipchart zuwenden, da wurde er erneut aufgehalten.
»Aber was ist denn passiert?« Eliza lächelte zuckersüss in Miles Richtung. »Lasst hören, Mylord. Woher habt Ihr die Gewissheit, die jeden Zweifel illegitimiert?«
Die Hand ihres Bruders wurde schlagartig so heiss, dass sie ihn loslassen musste. Miles Züge entglitten ihm, erst schoss ihm die Röte ins Gesicht, dann wurde er so blass wie ein Laken. »I-ich...«, begann er zu stammeln doch Jeremy Topper kam ihm zuvor: »Für das haben wir jetzt keine Zeit!« Bestimmt pochte er mit seinem Kohlestift auf das Flipchart und zog ein paar Pfeile aus den Kreisen des gezeichneten Epizentrums. »Das Wichtigste ist, dass wir erst einmal die Bevölkerung aus Tempus evakuieren und ein neues Kapitol für diese Regierung finden. Wir haben den Krieg gerade erst gewonnen, wir dürfen nicht zulassen, dass uns das entgleitet.«
»Für das erste Problem haben wir ja bereits eine Lösung«, stellte Ikarus mit Stolz fest. »Mein Vater, König Dädalus, hat uns bereits Truppen gesendet. Und auch König Orion hat Boten nach Kamen'strany ausgesandt, um Hilfe nach Tempus zu schicken. Die Truppen meines Vaters sollten vermutlich in ein paar Stunden eintreffen und die Überlebenden unter meinem Kommando aus der Stadt führen Und sobald die Zwerge Tempus erreichen, werden sie beginnen, in den Trümmern nach weiteren Überlebenden zu graben.«
»Und am besten führt ihr sie gleich aus dem ganzen Tal! Die Zerstörung begrenzt sich momentan noch auf das Tal, sie wird schon bald beginnen, sich auszubreiten. Ich schlage vor, wir nehmen Kontakt mit der machthabenden Instanz in Malakin auf, um-«
»Malakin?!« Empört sprang die Muhme Trude, die Senatorin, die im Namen des Coven sprach, auf. »Malakin ist eines der Reiche, das sich von Tempus losgesagt hat. Es steht in Verdacht, unseren Feinden Obdach zu gewähren, es ist abtrünnig! Wir würden die Überlebenden aus dem Regen in die Traufe schicken.«
»Ich weiss, ich weiss, ich weiss!« Topper nickte wild. »Aber wohin sollen wir sonst? Es ist wichtig, dass die Evakuierten soweit vom Tal der Ewigkeit wegkönnen. Von Malakin aus werden die Flüchtlinge durch die Grenzwälder Virid'agrus und weiter in den Süden ziehen.«
»Ich weiss nicht, ob mein Volk das gutheissen würde«, gab Sookie, die Abgesandte der Elfen, zu Bedenken. »Virid'agru ist neutrales Terrain. Selbst zu Kriegszeiten wurde diese Neutralität gewahrt. Nicht einmal die Rebellen haben durch die Wälder reisen dürfen...«
»Was ist mit den Zwergenlabyrinthen?«, schlug Mikusch Frihir, der Senator der Werwölfe, der von vielen nur Welpe genannt wurde, vor. »Die erstrecken sich doch unter ganz Arkan. Können die Flüchtlinge nicht unterirdisch in den Süden reisen?«
»Die meisten von den Tunneln sind schon seit der Nacht der roten Kronen nicht mehr begehbar oder so schwer beschädigt, dass man lebensmüde sein müsste, um sie zu betreten. Nach diesem Erdbeben, werden die meisten Eingänge in der Nähe der Stadt verschüttet sein. Und wenn stimmt, was der Hutmacher uns eben erzählt hat und das gestern war nur der Anfang... Einem solchen Beben wird kein Zwergentunnel standhalten«, antwortete ihm Tohock Beryn, der Senator der Zwerge und kämmte sich den filzigen Bart mit den wulstigen Fingern. Mit etwas feindseligem Blick blinzelte er in Sookies Richtung. »Ausserdem sind die Kriegszeiten vorbei. Noch nie gab es einen besseren Zeitpunkt für die Elfen, endlich über ihren Schatten zu springen und die feige Neutralität, hinter der sie sich schon so lange verstecken, für das Allgemeinwohl zu opfern.«
In Sookies Kopf ratterten sichtlich die Zahnräder. »Königin Amiéle wird das nicht zulassen.«
»Königin Amiéle hat nicht länger das Sagen, wenn es um Politik ausserhalb ihres Reiches geht. Die Länder der Elfen sind Vasallenstaaten der Herrscher.« Sabrina wusste nicht, woher ihr Mut auf einmal kam. Vielleicht war es das Bewusstsein, dass sie die Verantwortung über Leben und Sterben jedes einzelnen Bürgers Tempus' trug, vielleicht hatte sie aber auch einfach nur die Schnauze voll von der Arroganz der Elfen. Sie spürte ihn durch ihre Adern rauschen und sie wachsen lassen, als sich die Augen des Senats auf sie legten. Man nahm sie ernst. »Wenn mein Bruder und ich es verlangen, wird Virid'agru seine Tore öffnen.«
Sookie nickte. »Das Volk hat mich zur Senatorin gewählt. Ich unterstütze diese Entscheidung. Königin Amiéle wird sich den Entscheidungen der Herrscher beugen.«
»Was das neue Kapitol und den Regierungssitz angeht«, mischte sich nun auch Guenio, der zuvor nur stillschweigend über seinem Stuhl geschwebt war, in die Diskussion ein, »schlage ich unsere ehemalige Rebellenbasis vor. Turdidae war die Wiege der Rebellen, es gäbe keinen perfekteren Ort. Und dank LaRuh, das dort unterirdisch liegt, wird auch immer genug Platz für die Flüchtlinge sein.«
»Dann soll die gesamte Bevölkerung des Nordens nach LaRuh gehen? Ist das der Plan?«, fragte Agaue Fluc, die Senatorin der Aquaner scheu.
»Die Zwerge leben seit Anbeginn der Zeit im Ondorgebirge. Die meisten von ihnen werden Kamen'strany niemals aufgeben!«, brummte Tohock Beryn sofort und zuckte mit den breiten Schultern.
»Ich glaube auch nicht, dass es darum geht, irgendjemanden zu zwingen.« Des Herzkaspers sanfte Stimme passte so gar nicht zu seinen wie vor Schreck weit aufgerissenen Augen. »Es ist jedem selbst überlassen, ob er diese Gefahr ernst nimmt, aber die Option sollte mit Sicherheit offenstehen. Ich schlage vor, dass jeder Senator dafür sorgt, dass die ihm unterstellten Völker über alles unterrichtet und jedes einzelne Wesen wird daraufhin die Chance haben, seinen eigenen Weg zu gehen. Wir dürfen nicht zu aggressiv vorgehen, sonst lösen wir noch einen Bürgerkrieg aus. Die Welt vor dem Bösen zu retten ist vermutlich einfacher, als sie vor Dummheit zu bewahren.«
Topper kratzte sich hinterm Ohr. »Die meisten Völker werden die Gefahr erst ernst nehmen, wenn die Katastrophe sie schon erreicht hat. Wir sollten LaRuh also von Anfang an auf grössere Wellen an Flüchtlingen vorbereiten. Ich vermute, dass die Zerstörung sich vor allem zu Beginn eher langsam ausbreiten wird, doch wer weiss das schon genau? Wir sollten auf alles vorbereitet sein!«
Die Senatoren nickten. Das schien alle zufrieden zu stellen.
»Damit hätten wir jedoch noch immer das Problem mit Malakin«, warf Silas Vicini, Faun und Senator der Minderheiten unter all den Völkern Twos', ein. »Warum gehen wir anstatt nach Osten nach Westen und von dort aus nach Süden? Oder nach Norden ins Ondorgebirge?«
»Nach Norden zu gehen wäre keine längerfristige Lösung«, erklärte Jeremy Topper. »Das Ondorgebirge ist dem Tal der Ewigkeit zu nah, weshalb ich es auch den Zwergen dringendst anraten würde, sich mit dem Gedanken, Kamen'strany verlassen zu müssen, anzufreunden. Und Richtung Westen und von dort aus in den Süden zu fliehen macht auch keinen Sinn. Malakin ist ein Risiko, ja. Aber gingen wir nach Westen, müssten wir durch Wa'illa, Basilon, Ularsar, Apium und Palyas! Und die sind alle Staaten, die sich von Tempus abgewandt und als unabhängig erklärt haben. Malakin mag das gefährlichste all dieser Reiche sein, aber es erstreckt sich nicht über den halben Kontinent. Malakin ist nur ein Reich. Der Westen besteht praktisch nur aus Verrätern!« Topper blickte in die Runde, streckte ihr herausfordernd das Kinn entgegen. »Der Norden ist eine Sackgasse, im Westen lauern kilometerweit Feinde. Und südlich des Ezelwalds erstrecken sich die Waldgärten von Wyr, in die keiner von uns je wieder einen Fuss setzen würde. Es gibt keine andere Möglichkeit, als uns durch Malakin zu wagen und von dort aus durch Virid'agru zu fliehen. Wir müssen alle in den Süden fliehen, dort wird die Zerstörung zuletzt eintreffen...«
»Ihr sprecht ständig davon, dass sich die Zerstörung ausbreiten wird«, hakte Agaue Fluc, die schöne Nereide, nach. »Was meint Ihr damit?«
Niemand sagte etwas und doch ging ein stummes Raunen durch die Kabine, die zum Sitzungszimmer des Senats geworden war.
Der Hutmacher hob den Arm und deutete aus einem der Fenster, durch das verschwommen die Flammen der brennenden Stadt durch die Dunkelheit glommen. »Die Zerstörung ist das, was dort draussen vor sich geht. Die Erdbeben, die Stürme, die Katastrophen. Das alles geschieht, weil das Schicksalsnetzt, das unsere Welt beschützt hat, zerrissen wurde. Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird, ich weiss nicht, wie viel Zeit Twos noch bleibt, doch die Zerstörung wird sich ausweiten. Tempus ist nur der Anfang.«
»Der Anfang von was?«, fragte der Herzkasper. »Was beginnt, Hutmacher?«
Jeremy Topper fuhr sich übers Gesicht und blinzelte müde in die Runde. »Das Ende.«
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Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und Eis
FantasíaAchtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal...« und hat ein »Happy End«. Nicht alle Prinzessinnen sind wehrlos auf einen Retter in der Not angewiesen. Nicht selten ist das wahre Monster...