Kapitel 2

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Ally

Als ich ein leichtes Rütteln an meiner rechten Schulter wahrnehme, schlage ich müde meine Augen auf und schaue direkt in das glitzernde Grün meiner Mutter. Ich drehe meinen Kopf um 180 Grad nach links, um festzustellen, dass wir gerade gelandet sind. Ab hier gibt es nun endgültig kein Zurück mehr. Langsam erhebe ich mich aus dem bequemen Sitz und laufe meiner Mutter nach, die sich bereits auf den Weg zum Ausgang gemacht hat. Draußen angekommen atme ich die frische Luft ein und lasse die warmen Sonnenstrahlen auf meinen Körper einwirken.

Der große Reichtum unseres Lebens sind die kleinen Sonnenstrahlen, die jeden Tag auf unseren Weg fallen."

Ich setze mich langsam in Bewegung, da meine Mutter mich schon auffordernd ansieht und ich nicht ihre schlechte Laune abbekommen möchte, wenn wir nicht pünktlich bei ihrem Neuen ankommen. Da dürfte ich mir eine ihrer Moralpredigten über Pünktlichkeit anhören, dass ich doch keine waschechte Deutsche bin, wenn ich dieses Klischee nicht erfülle. Meistens rauscht das bei mir eh alles vorbei, weil für mich solche Klischees einfach überflüssig sind.

Als wir unsere Koffer in das, bereits vorm Flughafen stehende, Taxi geladen haben und uns mittlerweile darin befinden, durchbricht meine Mutter die angenehme Stille, leider.

„Oh Schätzchen, du wirst es hier lieben! Ich war schon oft hier und wenn man einmal hier ist, will man gar nicht mehr weg!.."

Ach hier war meine Mutter immer als sie auf "Geschäftsreise" war. Sie hätte von mir aus auch hier bleiben können, aber dass hätte sie sicherlich nicht in ein besonders gutes Licht gerückt. „Mutter einer kleinen Familie mit Mann und Tochter, brennt mit ihrem neuen Freund nach Amerika durch", wäre Gesprächsthema für mehrere Wochen, in unserer Nachbarschaft gewesen. Das konnte sie doch nicht riskieren! Da kommt der Tod von Dad natürlich genau richtig! Und als sie ihre Chance erkannte, hat sie ohne Rücksicht auf Verluste ihre Koffer gepackt und hat sich in den nächsten Flieger zu ihrem neuen Macker gesetzt und ihre arme, hilflose Tochter, die bereits schon mit den Nerven am Ende ist und sich fragt was es noch für einen Sinn in ihrem Leben gibt, mitgeschleppt. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke ist das noch eine viel bessere Schlagzeile und wird für ordentlich Gesprächsstoff sorgen!

„... hörst du mir überhaupt zu, Ally?"

„Was hast du gerade gesagt?"

Dafür bekomme ich ein Augenverdrehen und ein genervtes Stöhnen von meiner Mutter. Was will ich aber auch anderes erwarten?!....

„Du hast noch heute, morgen und Sonntag genug Zeit um deine Koffer auszuräumen und dein Zimmer zu dekorieren. Lukes hat mir erzählt, dass du ein wunderschönes großes Zimmer hast, mit deinem eigenen Bad und einem begehbaren Kleiderschrank. Ist das nicht toll, mein Schatz? Am Montag ist für dich dein erster Schultag. Du kannst auch jeder Zeit zu Jake gehen, wenn etwas ist. Lukes hat dir sogar dein eigenes Auto gekauft! Ich habe keine Ahnung was für eins aber er meinte es wird dir sicherlich gefallen! Versteh' mich bitte nicht falsch mein Schatz, aber ich möchte, dass du dich von deiner besten Seite zeigst! Lukes gibt sich solche Mühe und ich denke auch Jake wird das tun! Stoß sie nicht so vor den Kopf und sei nett zu ihnen! Vor allem lächle mal ein wenig..."

„Das kann doch nicht dein scheiß Ernst sein, oder?...", unterbreche ich meine Mutter. "... Du willst also, dass ich Lukes lächelnd begrüße und ihm um den Hals falle, weil ich jetzt ein eigenes Auto habe, mein eigenes Bad und einen begehbaren Kleiderschrank. Dass ich Jake umarme und sage: 'Hey Bruder, lass mal zusammen zocken?'... Ich kenne diese Menschen nicht einmal und ich habe auch nicht verlangt all das zu bekommen. Ich habe mir nicht ausgesucht, dass Dad stirbt und ich mit dir nach Amerika muss. Und ich habe mir auch nicht ausgesucht so zu leiden! Da du anscheinend nicht weißt wie es ist einen Menschen zu verlieren, den man mehr als alles andere geliebt hat und der wichtiger für einen war als alles andere auf der Welt, sage ich es dir. Es ist beschissen, okay? Man denkt man bekommt keine Luft mehr, kann nicht atmen und erstickt. Ich möchte schreien, weinen, um mich schlagen, damit der Schmerz vergeht. Aber er vergeht nicht. Er wird immer bleiben! Ich werde nicht so tun als wäre alles okay und ich werde mich so zeigen wie ich bin. Ich werde mich nicht verstellen und wenn ihr damit nicht klar kommt, dann steckt mich ins Heim oder so. Und ich werde auch nicht auf "heile Familie" machen, nur weil es besser in deine Vorstellung passt. Lukes wird auch nie Dad ersetzen können und ich will auch keinen anderen Dad haben! Tut mir leid, falls ich eine Enttäuschung für dich bin, Mum..."

Ich lachte bitter auf und schüttelte meinen Kopf vor Fassungslosigkeit. Meine Mutter wollte etwas erwidern, doch ich hinderte sie daran, indem ich meine Kopfhörer in die Ohren steckte und ihr somit signalisierte, dass ich nicht mit ihr reden möchte. Meine Worte waren hart, aber sie sollte nicht denken, dass ich das alles hier freiwillig mache und nur weil wir in Amerika sind Freudensprünge vollführe. Als ich aus dem Fenster sah und versuchte meine Gedanken zu ordnen, ertönte das Lieblingslied von Dad, welches ich zu seinem letzten Geburtstag gesungen habe, aus meinen Kopfhören. Eine stumme Träne rinnt mir über die Wange, die mein Kinn noch nicht erreicht hat als ich sie wegwischte. Und schon waren meine Gedanken wieder bei Dad.

"Auf wiedersehen, Adieu, So long, Au revoir, Arrivederci! Egal in welcher Sprache ich mich verabschiede, ich werde dich auf alle Fälle vermissen."

Damn StepbrotherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt