Kapitel 38

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Ally

Die Wahrnehmung der Zeitdauer hängt davon ab, was in der Zeit passiert. Ein ereignisreicher Zeitraum erscheint kurz, „vergeht wie im Flug". Hingegen dauern ereignisarme Zeiträume manchmal quälend lange.

Paradoxerweise empfindet man im Rückblick die Zeiten gerade umgekehrt: In ereignisreichen Zeiten hat man viele Informationen eingespeichert, sodass dieser Zeitraum lange erscheint. Umgekehrt erscheinen ereignisarme Zeiten im Rückblick kurz, da kaum Informationen über sie gespeichert sind.

Doch Paradoxerweise empfinde ich wiederum die vergangenen zwei Wochen als verdammten Stillstand der Zeit. Man möge meinen: Es waren doch nur zwei Wochen. Was sind schon zwei Wochen? Es sind verdammte zwei Wochen. Zwei Wochen in denen meine Besorgnis um Jake von zehn ins Unermessliche gestiegen ist.

Als Liam mir vor zwei Wochen gesagt hat, dass alles wieder gut wird und mir Jake sicherlich alles erklären wird, war ich der festen Überzeugung, dass er Recht hat. Jeden verdammten Tag habe ich auf einen Anruf gewartet, eine Nachricht oder nur ein Zeichen, dass es ihm gut geht. Ich habe mich nicht einmal mehr um die Entschuldigung gekümmert, weil diese mir mittlerweile Schnuppe ist! Ich will einfach nur wissen wo sich Jake aufhält!

Ich habe so viel zu sagen! Ich will ihn anschreien, weil er einfach abgehauen ist, ihn zusammenschlagen, weil er mir damit verdammt nochmal wehgetan hat und ich will ihn küssen, weil ich ihn verdammt nochmal liebe!

Das Schlimmste an der ganzen Situation ist jedoch, dass Liam weiß, wo Jake sich aufhält. Jeden einzelnen Tag flehe ich ihn an, dass er mir verrät wo er ist oder ob es ihm gut geht. Jedes mal bekomme ich dasselbe gesagt: „Ich kann dir nichts verraten." Er sieht wie es mir jeden Tag schlechter geht, aber kann mir nichts sagen, besser geht es doch gar nicht. Nicht einmal Lukes will mir irgendetwas sagen. Ich sehe ihm genau an, dass er etwas weiß. Jedes mal als ich gefragt habe, ob Jake sich gemeldet hat, bekommt er einen traurigen Gesichtsausdruck mit einem Hauch Schuld. Es kotzt mich an, das alle hier einen auf Geheimnis machen, während ich vor Sorge fast umkomme.

Ich habe mir geschworen, nicht lockerzulassen und Lukes solange zu fragen, bis er mir etwas erzählt. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, oder zumindest, dass er mir sagt dass es Jake gut geht. Hoffentlich. Auch heute tragen mich meine Füße also unsere Treppe in Richtung Küche, wo die Stimmen meiner Mutter und Lukes zu hören sind.

Jedes mal wenn ich an Jakes Tür vorbeikomme habe ich die Hoffnung, dass er gerade mit verstrubbelten Haaren nach draußen kommt und mich mit seinem verschmitzten Grinsen betrachtet. Ich vermisse dieses Grinsen. Ich vermisse die Blicke, mit denen er mich angesehen hat, als wäre ich etwas Besonderes. Ich vermisse ihn.

Am Türrahmen der Küche lehnend, beobachte ich das Szenario, welches mir dargeboten wird. Lukes und Mum streiten sich, mal wieder. Diesmal fallen Sätze wie: „Du musst es ihr sagen!", „Ich kann nicht.", „Sie ist deine Tochter."... MOMENT WAS?

„Was musst du mir sagen?", skeptisch blicke ich auf meine Mutter, die erschrocken aufkeucht. Auch Lukes schaut diese durchdringend an.

„Sag es ihr. Sie hat ein Recht darauf es zu wissen!"

„Ach ja? Sie hat genauso ein Recht darauf zu wissen wo Jake ist und trotzdem verschweigst du es jedes mal aufs Neue!"

„Lukes? Was ist mit Jake?"

„Ally, ich..."

„NEIN, NICHT ALLY, ICH KANN NICHT! SAG MIR VERDAMMT NOCHMAL WO ER IST!", Tränen sickern meine Wange herab und flehend schaue ich Lukes an. „Bitte, ich.. ich weiß nicht, was ich sonst noch machen kann. Ich muss wissen ob es ihm gut geht!"

Er nimmt mein Gesicht in beide Hände, bevor er tief durchatmet.

„Ich kann dir nicht sagen, wo er ist. Aber glaub mir wenn ich sage, dass du dir keine Sorgen machen musst und es ihm gut geht!"

„Nein, du musst.."

„Ally.. es geht nicht! Ich weiß, dass du ihn liebst und dir Sorgen machst. Das einzige, was du wissen musst, ist dass es ihm gut geht, okay? Er kommt wieder, ich verspreche es dir.", immer mehr Tränen fließen meine Wange hinunter, aber ich muss Lukes vertrauen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die mir bleibt. Also gebe ich ihm ein leichtes Nicken, bevor ich mich an meine Mutter wende.

„Was sollte ich wissen?", sie schaut mich mit Tränen an und ich habe noch nie einen solchen Blick bei ihr gesehen. Ich kann nicht wirklich sagen, ob er mehr Reue oder Traurigkeit zeigt.

„Du weißt, dass ich dich liebe Ally!", fragend schaue ich sie an.

„Ich kann das nicht Lukes! Sie wird mich hassen!", ein Schluchzen ist zu hören und bei genauerem hinschauen, sehe ich einen Brief in ihrer rechten Hand. Entschlossen gehe ich auf sie zu und nehme ihr den Brief aus ihrer Hand.

„Du darfst ihn nicht lesen Ally!"

„Was steht da drin?"

Schweigen.

„Es ist ein Brief von deinem Vater.", fragend drehe ich mich zu Lukes um, der offensichtlich entschieden hat für Mum zu reden.

„Dein Vater ist nicht bei einem Unfall gestorben."

„Wie meinst du das?", meine Stimme ist nur noch ein Hauchen und ich habe das Gefühl meine Beine werden mich nicht länger halten.

„Es war kein direkter Autounfall.", Lukes atmet einmal kurz durch. „Er hat sich das Leben genommen, Ally."

„Drei Dinge sind es, die nicht zurückkommen: das gesprochene Wort, das vergangene Leben und die versäumte Gelegenheit."

Damn StepbrotherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt