#27 - Rennen

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Ich spähte in die Dunkelheit. Ein wenig entfernt sah ich vier Menschen. Sie waren groß und breitschultrig.

Ich duckte mich instinktiv und verschwand hinter dem Stein, damit sie mich nicht entdeckten. Ich konnte sie bis hierher lachen hören. Sie waren bestimmt betrunken.

Ich krallte meine Finger in den Stein, bis es wehtat. Ich hatte so wahnsinnige Angst, sie machte mich schier verrückt.

Ich lehnte mich vorsichtig ein wenig zur Seite und sah an dem Stein vorbei.

Oh mein Gott, sie kamen direkt auf mich zu! Ich war dabei, die Fassung zu verlieren. Da sie herumgrölten, konnte ich ihre Stimmen sehr gut hören. Der eine schrie gerade irgendetwas darüber, wie scheiße die Menschheit doch war und dass er am liebsten auf den Mond fliegen würde.

Wie tiefgründig.

Sie kamen immer näher. Verdammt, was machte ich jetzt nur? Ich saß hier fest!

Sie kamen immer noch näher.

Hektisch versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen und einen Plan zu fassen.

Sie waren nur noch zehn Meter von mir entfernt.

... und Action, eine neue Sam-Aktion – diesmal eine ziemlich beschissene, schoss mir durch den Kopf, als ich in die Höhe schnellte und sofort losrannte.

Ich rannte und rannte und rannte.

Bäume, Bänke und Dönerbuden flogen an mir vorbei, ich rannte und rannte. Ich konnte das Adrenalin in meinem Blut spüren, es schoss in atemberaubender Geschwindigkeit durch meine Adern.

Ich bemerkte gar nicht, dass ich instinktiv in die richtige Richtung rannte. Wahnsinn, was eine Gefahrensituation mit einem machen kann.

Ich drehte mich im Laufen einmal um – und wäre beinahe hingefallen.

SCHEISSE! Sie rannten mir hinterher! Zumindest drei von ihnen, der vierte musste bestimmt auf ihren Bierkasten aufpassen, den sie mit sich herumgetragen hatten.

Ich zog mein Tempo noch an.

Wie gesagt, Gefahrensituationen ließen einen zur Höchstform auflaufen.

Als ich mein Auto schon von weitem sah, hätte ich am liebsten vor Erleichterung aufgeschrien.

Ich schoss wie der Wind hin – es war das einzige Auto, das hier noch stand – während ich versuchte, meinen Schlüssel in meiner Tasche zu finden.

Ich machte eine Vollbremsung und blieb schlitternd ungefähr drei Zentimeter vor  meinem Seitenspiegel zum Stehen.

Heiliger, das war knapp! Wäre ich in das Auto gerannt, wäre das ziemlich schmerzhaft gewesen und die Kerle hätten mich gleich gehabt. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was dann passiert wäre...

Ich drehte mich um und sah, dass sie es nicht mehr weit hatten. Viel Zeit blieb mir nicht.

Ich suchte immer noch nach diesem gottverdammten Schlüssel. Als die Kerle noch zwanzig Meter von mir weg waren, fand ich ihn endlich. Mit zittrigen Fingern riss ich ihn aus meiner Tasche.

Ich drückte mit aller Kraft auf die Entriegelung, riss die Tür auf, sprang hinein und drückte sofort auf die Taste mit dem geschlossenen Schloss.

In Sicherheit.

Ich hatte mich selber eingesperrt.

Ich sah durch den Rückspiegel. Sie waren nur noch fünf Meter entfernt. Ich rammte den Schlüssel ins Schlüsselloch, startete das Auto, löste die Handbremse und drückte aufs Gas.

Gott sei Dank war ich das einzige Auto hier, sodass ich einfach geradeaus fahren konnte, ohne auf jemanden achten zu müssen, und ich schoss davon.

Als ich die Ausfahrt des Olympiageländes erreichte, weinte ich so sehr, dass ich nichts mehr sah. Ich fuhr rechts um die Ecke und blieb auf einem Anwohnerparkplatz von einem Wohnhaus stehen.

Ich war kurz davor durchzudrehen.

Hysterisch schluchzte ich laut vor mich hin.

Ich konnte nichts mehr sehen, meine Augen waren komplett verschleiert. Ich wollte nach meiner Tasche greifen, um Caros rettende Stimme zu hören, aber ich wurde so sehr von starken Schluchzern geschüttelt, dass ich meinen Körper nicht unter Kontrolle hatte.

Ich zog meine Füße auf den Sitz, presste meine Unterschenkel gegen das Lenkrad und vergrub mein Gesicht unter meinen Armen auf meinem Schoß. So hatte ich meinen Körper wieder einigermaßen unter Kontrolle, was aber rein gar nichts half. Da ich die Augen geschlossen hatte, erschien sofort wieder der Tweet vor mir.

Und die Tatsache, dass er ihn einfach gelöscht hatte.

Er hatte mich aus seinem Leben gelöscht.

So mir nichts dir nichts.

Ich konnte es nicht glauben, es wollte nicht in mein Hirn reingehen.

Nach circa zehn Minuten hatte sich das Zittern beruhigt und ich konnte nach meiner Tasche greifen. Ich suchte nach meinem Handy – blind, da mir die Tränen immer noch in Sturzbächen die Wangen hinunterliefen und mir die Sicht raubten.

Endlich bekam ich etwas Viereckiges, Kaltes in die Finger. Ich zog es heraus und wischte über den Bildschirm, um die Sperre zu lösen. Ich wählte die Nummer und wartete darauf, die Stimme meiner besten Freundin zu hören.

HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt