Kapitel 6

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Mittlerweile war es schon vier Uhr. Sie standen vor dem Fernsehturm, mit dem Blick zum S-Bahnhof. Eine junge Frau eilte in ihre Richtung und blieb vor ihnen schweratmend stehen. Sie hatte langes kupferfarbenes Haar und grüne Augen.
"Es tut mir leid.", sagte sie nach einem tiefen Seufzer. "Die S-Bahn ist echt eine Schande. Eine ist ausgefallen, die andere hat sich verspätet..."
Daniel beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Die Begrüßung wäre wahrscheinlich anders ergangen, wenn sie nicht dabei wäre. Sie hatte Verständnis.
"So...", fing ihr Sohn an. "Darf ich vorstellen: Cecile, das ist meine Mutter Emilia. Mutter, das ist meine Freundin Cecile."
Die junge Frau lächelte sie schüchtern an und streckte die Hand aus. Emilia zog sie an der Hand zu sich und schloss sie fröhlich in eine Umarmung. "Ach, Schätzchen, schön, dich kennenzulernen. Ich heiße dich in unserer Familie herzlich willkommen."
Sie ließ Cecile los und diese lachte nervös. "Es freut mich auch, Sie kennenzulernen."
Sie würde eine gute Schwiegertochter sein. Sie war sich sicher, dass ihr Sohn Cecile heiraten würde. Zu lange hatte er schon auf die Liebe seines Lebens gewartet. Und die beiden schienen glücklich miteinander zu sein. Hm, und Cecile war wirklich hübsch. Außerdem war sie einen halben Kopf größer als Emila selbst.
"Entspann dich endlich.", sagte Daniel gelassen und legte den Arm um Ceciles Taille.
"Du hättest mir mehr erzählen sollen.", entgegnete diese und rammte ihm leicht den Ellbogen in sie Rippen.
"Mir auch.", stimmte sie mahnend bei.
Daniel nahm seinen Arm weg, hob abwehrend die Hände und trat gleichzeitig einen Schritt zurück. Er grinste schuldbewusst. "Tut mir leid, meine Damen."
Es tat ihm ganz sicher NICHT leid., dachte sie und lachte leise. Sie hackte sich bei Cecile ein und lächelte. "Lass uns vorgehen. Daniel hat wahrscheinlich große Gewissensbisse. Und du brauchst wirklich nicht so nervös zu sein. Ich beiße nicht. Obwohl..." Sie lachte, weil die Redewendung in ihrem Fall nicht passte.
Sie beide gingen los und Daniel folgte ihnen.
"Ich verstehe schon.", lachte Cecile mit. "Wann sind Sie angekommen? Daniel ist nämlich sehr schweigsam."
"Sprich mich ruhig mit du an, ja.", lächelte sie.
"Ja Verzeihung!", sagte gleichzeitig ihr Sohn.
"Vor drei Tagen. Und du, wie lange lebst du schon hier?", beendete sie.
"Ich wurde hier geboren.", antwortete Cecile. "Ach übrigens. Daniel, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich morgen mit meinem Bekannten treffe. Wir haben uns schon fünfunddreißig Jahre nicht gesehen."
Die vom Aussehen her junge Frau sprach mit so einer impulsiven Freude, dass es sie sogar überraschte.
Doch Daniel zuckte nur die Schultern. "Wenn ich auf ihn nicht eifersüchtig sein muss..."
"Nein, nein, er ist nur mein Bekannter."
Wie lange trafen sie sich wohl schon... Daniel war ein Meister darin, Sachen zu verheimlichen. Nur konnte er seine Gefühle nicht vor ihr verstecken, sie war schließlich seine Mutter.
Wie viel wusste Cecile wohl über ihre Familie? Hatte Daniel ihr etwas von Vincent erzählt? Höchstwahrscheinlich nicht. Denn dieses Monster wurde von jedem gehasst. Und gefürchtet... Zusammen könnten sie ihn theoretisch umbringen, doch sie würde es ihren Kindern nicht antun. Niemals in ihrem ewigen Leben.
"Hey!", rief Daniel. "Ich weiß nicht, wo ihr hinläuft, aber ich wollte eigentlich hoch."
Sie beide blieben stehen, drehten sich zu ihm um und sahen, wie er auf den Fernsehturm zeigte.
"Oh ja, super Idee! Ich war schon lange nicht mehr im Fernsehturm! Weißt du, Emilia, dort oben ist es wirklich sehr schön! Die Aussicht muss man zumindest einmal gesehen haben!", schwärmte Cecile begeistert.
Sie musste lachen. Cecile fühlte sich offensichtlich nicht mehr so gehemmt.
"Dann gehe ich schon mal vor und stehe in der Schlange. Ihr könnt so lange spazieren.", schlug Daniel vor.
"Machen wir. Ruf mich an, wenn es soweit ist.", stimmte Cecile zu und zog sie schon weg.
"Viel Spaß beim Warten.", lachte Emilia und winkte ihrem Sohn zu.

Die Aussicht vom Fernsehturm war unglaublich! Er hat schon lange nicht mehr so hoch gestanden. Aber die Schlange hatte ihn viel Zeit gekostet. Das war der einzige Nachteil. Ah, und die vielen Menschen. Er sollte mal wieder was essen...
Jetzt stieg er aus dem Aufzug und dann die Treppe runter, wobei seine Gedanken immer wieder zurück zum Handy abschweiften und dass ihn Emilia nicht angerufen hatte.
Er stieß mit jemandem zusammen, entschuldigte sich flüchtig und ging weiter, ohne aufzusehen. Doch einer fasste ihn am Arm und hielt ihn auf. Eine bekannte Stimme erklang. "Michael?"
Er sah hoch und fand Daniel vor sich stehen.
"Hey, Daniel.", erwiderte er genauso überrascht. "Was machst du denn hier?"
"Das Gleiche wollte ich dich auch fragen. Ich stehe hier für meine Familie Schlange."
"Ah ja, deine Mutter ist doch zu Besuch. Hach, was für ein Zufall, dich hier vorzufinden. Ich bin hier, weil mir langweilig war. Schließlich habe ich immer noch keine Arbeit. Außerdem muss ich Berlin wieder erkunden, es hat sich vieles verändert."
Daniel nickte wissen. "Das glaub ich dir."
"Dann... gehe ich weiter. Viel Spaß dir in der Schlange, ich musste eine Stunde lang warten.", grinste er.
"Noch so einer.", schnaubte der andere. "Na gut, ruf mich an, wenn du was brauchst."
"Mache ich.", nickte Michael und machte sich wieder auf den Weg.
So schade, dass Daniel doch nicht frei war. Er würde wohl allein durch Berlin laufen müssen. Er bedauerte sich selbst.
Wie ging es jetzt wohl Maria? War sie schon tot? Bestimmt... Wie er sich dafür hasste, dass seinetwegen Kinder starben. Er musste sich was einfallen lassen, wie er seine Kinder wirklich verstecken konnte. Oder sollte ER sich nicht mehr verstecken und sein Schicksal endlich geschehen lassen? Ja, wahrscheinlich. Schon hundert Jahre lief er davon. Irgendwann musste er endlich Schluss damit machen. Er würde sich den Dakes ausliefern.
Er holte sein Handy raus und wählte die Nummer 'seines Sohnes'. Egal, dass er gerade mitten auf der Straße und von vielen Menschen umgeben war. Er musste einfach mit jemandem über seine Entscheidung reden. "Arin, hallo, hier ist Michael."
"Abend. Ist das deine neue Nummer?"
"Ja."
"Du klingst besorgt, ist irgendwas los?"
"Und wie. Ich muss mit dir eine Sache besprechen."
"Werde ich ausrasten?", fragte der Vampir gelassen.
"Oh jaa, das wirst du."
"Dann warte." Er hörte, wie eine Tür geschlossen wurde. "Jetzt kannst du anfangen."
Drei. Zwei. Eins... "Ich will mich ausliefern."
Eine Weile herrschte angespannte Stille.
"Was?", meldete sich Arin endlich. Seine Stimme war ungläubig entsetzt. "Entschuldigte, aber bist du völlig irre?!"
"Ich sag doch, du wirst ausrasten.", entgegnete er scherzend.
"Spaß beiseite, Michael. Du meinst das wirklich ernst, nicht wahr?"
"Ja, das ist mein Ernst."
"Du bist irre. Warum jetzt? Warum dann nicht früher? Du hättest Maria retten können!"
"Denkst du, sie hätten sie gehen lassen?", fuhr er Arin an.
Er atmete durch und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Schließlich wollte er nicht mitten auf der Straße herumbrüllen.
"Du hättest es versuchen können! Aber nein, du lässt alles los und willst dich Tage später deinem Tod begeben! Michael, spinne nicht rum! Ich weiß, dass du alles satt hast, aber wir doch auch! Lass uns nicht hängen! Sonst komm ich gleich zu dir und schlage dir den Schwachsinn aus dem Kopf, verstanden?!"
"Dein Glück, dass ich jetzt genau das gebraucht habe.", seufzte er.
"Was redest du da? Vater, du drehst durch."
"Nenn mich bitte nicht so."
Vater... Diesen Namen verdiente er nicht. Ein Vater würde sein Kind beschützen und sein Leben dafür geben. Er jedoch lief nur davon.
"Muss ich. Sonst realisierst du ja gar nicht, dass du Kinder hast, die dich dazu auch noch durchaus brauchen."
"Ich will es doch nur euch zugute tun.", rechtfertigte er sich.
"Nein.", widersprach Arin. "Du willst es nur DIR zugute tun. Gib's zu, du hältst es einfach nicht mehr aus. Hey, du hast mir so oft von Lidia erzählt - würde sie auch so aufgeben?"
Lidia. Er hatte sie schon lange nicht mehr angerufen. Es war ihm einfach zu unwohl. Er konnte deutlich spüren, dass sie sich ihm gegenüber für irgendwas schuldig fühlte. Und es war nicht wegen Melina. Das Gefühl machte sich bei ihr erst nach rund fünfzig Jahren breit. War etwas vorgefallen und sie hatte seine Erinnerungen gelöscht? Wie dem auch sei, Lidia würde ihm diese Frage keinesfalls beantworten.
"Lidia können wir jetzt vergessen.", antwortete er traurig.
"Michael, hör mir mal zu. Wag. Es. Einfach. Nicht. Ja?! Ich werde dir lieber noch weitere tausend Male mit den Umzügen helfen. Und... finde dir endlich eine Freundin. Das Leben kann Spaß machen."
Er schwieg kurz und seine Gedanken waren wieder bei Emilia.
"Arin, Arin... Manchmal frag ich mich wirklich, wer von uns beiden älter ist.", seufzte er dann leicht lächelnd.
"Gern geschehen." Er wusste, das sein 'Sohn' gerade ebenfalls lächelte. "Ach ja, warte einen Augenblick. Wir sind alle umgezogen, ich diktier dir gleich die neuen Adressen und Handynummern."
Es war schön zu hören, dass man ihn noch bräuchte. Er hatte dieses Gespräch wirklich dringend gebraucht.

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