Kapitel 17

16 0 1
                                    

Statt ins Hotel zurückzukehren, zog er wieder durch das nächtliche Berlin. Er wusste, dass Daniel recht hatte. Aber... wie sollte er Emilia nach all dem, was er ihr gesagt hatte, gegenübertreten? Wie sollte er ihr in die Augen blicken? Er würde wahrscheinlich kein einziges Wort herausbringen können, geschweige denn ihr die ganze Geschichte erzählen. Er musste sich endlich entscheiden, ob er geht oder bleibt. Das Erste wäre die einfachere Lösung, aber sie würde auch mehr Leid mit sich bringen. Er würde es nicht durchziehen können. Also blieb ihm nur eins übrig. Er würde mit Emilia reden.

Wieder war es Montag. Um sechs war sie schon auf den Beinen gewesen und hatte zwei Tassen Kaffee trinken müssen, um wirklich wach zu werden. Dem folgten einige Gläser Blut und sogar danach war sie noch müde. Wie sie es hasste, so früh aufstehen zu müssen. Doch erstens war die Arbeit gut und zweitens war sie selbst an ihrer Müdigkeit schuld, da sie letzte Nacht wegen den Grübeln lange aufgeblieben war.
Jetzt war es mittlerweile schon sieben und sie schnappte ihre Tasche, zog die Sandalen noch schnell an und verließ eilig die Wohnung. Sie musste zum Bus schaffen, sonst würde sie alle Bahnen verpassen.
Doch auf dem Weg zur Haltestelle kribbelte es überall in ihr und sie fühlte sich beobachtet. War Vincent wieder da?! Aber nein... Das Kribbeln war ein schönes Gefühl, dieses Monster hätte so etwas nicht auslösen können. War... Michael in der Nähe...? Beobachtete er sie? Nein! Nein, das konnte nicht wahr sein. Es war nur ihre Fantasie und ihr leeres Herz. Es war nur Einbildung, auch damals beim Konzert. Wahrscheinlich drehte sie einfach durch. Ja, das müsste es sein.
Noch eine Minute und sie hätte die leere Haltestelle erreicht. Aber...
"Emilia...", wurde es unsicher nach ihr gerufen.
Die Stimme...! Einbildung, nur Einbildung., dachte sie nervös.
"E- Emilia, bitte warte.", wurde es leise wiederholt, doch diesmal aus kleineren Entfernung.
Sie blieb abrupt stehen und bewegte sich nicht, atmete kurz und flach. War er es wirklich? Keine Halluzination?
Es legte sich eine Hand leicht um ihren Oberarm und drehte sie um, sie widerstand dem nicht.
Ihre Augen weiteten sich sofort und entsetzt flüsterte sie: "Michael..."
Sie spürte, wie die Tränen langsam ihre Augen füllten. Der Arm kribbelte, wo er sie festhielt, und sie spürte eine wirklich angenehme Wärme. Der Drang, ihm näher zu sein, erwachte. Sie wollte, dass er sie küsste, so wie früher. Doch er sah sie nur ebenfalls erstarrt an. Liebte er sie wirklich nicht?
Sie fasste Mut und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. "Warum bist du wieder da?! WARUM?! Was willst du damit erreichen?! Wozu hast du mich aufgefunden?!"
Sie holte mit der Hand aus, um ihm eine Schelle zu geben, doch er fing sie am Handgelenk mit seiner zweiten Hand auf, ehe sie seine Wange berühren konnte.
"Lass mich doch ausreden.", entgegnete Michael vorwurfsvoll.
Sie starrte ihn mit nassen Augen hasserfüllt an. Aber eigentlich, in ihrem Inneren, verspürte sie keinen Hass auf ihn. Nur tiefe Traurigkeit, weil er sie verlassen hatte. Und dann noch an dem vielleicht schönsten Tag ihres langen, unglücklichen Lebens.
Er schwieg und sie schnaubte. "Na, hast du doch nichts zu sagen? Dann lass mich los und hau ab! Ich brauch dich nicht. Verzieh dich. Lass mich zurück wie du es damals getan hattest! Du kommst doch ohne mich wunderbar klar!"
Bittere Tränen liefen über ihre Wangen, während sie alles, was sich in ihr über die Jahre versammelt hatte, an ihm ausließ. Aber wenn er sich jetzt umdrehen würde, würde sie sich einfach selbst umbringen. Sie würde es nicht aushalten, wenn er wieder ging. Denn das, was sie ihm in diesem Moment sagte, war genau das Gegenteil davon, was sie wollte.

Er blickte sie nur traurig an und ließ sie aussprechen. Sie musste das alles wirklich loswerden. Nachher würde es ihr besser gehen, er verstand das. Er spürte diesen starken Drang, näher bei ihr zu sein, sie zu küssen. Und wenn er das alles spürte, müsste sie es auch. Sie liebte ihn und weil er ihr so wehgetan hatte, sagte sie jetzt das alles. Wenn sie ihn nicht geliebt hätte, würde sie anders reagieren. Ja, Daniel hatte recht.
Er zog Emilia mit einem Ruck an sich, beugte sich leicht vor und küsste sie leidenschaftlich, wogegen sie sich nicht einmal wehrte. Sie brauchten das gerade beide. Der Kuss beteuerte ihre Liebe zueinander und das Gefühl, dass sie sich gegenseitig brauchten.
Dann ließ er sie los und sie sah ihn verwundert mit ihren verweinten goldenen Augen an.
"Ich bin hier", fing er ruhig an zu erklären. "weil ich mir sicher sein musste, dass sie alle nicht gelogen haben."
Er erstarrte mit großen Augen, weil er genau das gesagt hatte, was er nicht wollte, zumindest nicht jetzt.
"Wer SIE?", fragte sie langsam und wischte sich die Tränen weg.
"Vergiss.", entgegnete er und sein Blick schnellte von ihr zum Boden.
"Nein.", widersprach sie und bei ihren nächsten Worten liefen wieder Tränen über ihre Wangen. "Warum hattest du mich verlassen? Verdammt, Michael, warum?! Wenn du mich nicht geliebt hast, warum... dann das alles? Warum hattest du mir Geschenke gemacht? Warum warst du vor der Tür geblieben? Warum bist du wieder aufgetaucht? Warum der Kuss?"
Ihre Stimme verlor sich vor Verzweiflung. Sie schlug ihn mit der Faust gegen die Brust. Er konnte ihr Leiden einfach nicht mehr mit ansehen, seine Augen glitzerten verräterisch.
"Weil kein Wort, was ich an dem Abend gesagt hab, stimmte!", unterbrach er sie und fügte leise hinzu: "Ich sollte jetzt lieber gehen."
Er drehte sich um, doch sie griff mit Vampirgeschwindigkeit nach seinem Handgelenk und rief: "Nein, warte!"
"Ich sollte mich doch verziehen. Also verziehe ich mich.", erwiderte er bitter.
Es war falsch, das zu sagen, denn vorhin hatte sie es nicht so gemeint. Aber wenn es ihr bei seinem Dasein so schlecht ging, sollte er sie nicht länger quälen. Warum war das alles nur so schwer?!
"Nein, geh nicht! Bitte nicht nochmal! Michael, tu mir das nicht an."
"Mein Sonnenschein, ich...", fing er an und unterbrach sich selbst. Was sollte er sagen? Er wusste es nicht. Es gab zu viel, was er sagen wollte.
Er drehte sich zu ihr um, zog sie wieder an sich und schloss sie einfach in eine Umarmung. Sie weinte immer noch.
"Geh nicht. Ich brauche dich, das weißt du doch. Lass mich nicht wieder im Stich.", flehte sie. "Du kannst mir das doch nicht antun. Ich bitte dich. Ich werde es ohne dich nicht schaffen."
"Ich liebe dich auch, meine Schöne.", flüsterte er liebevoll und traurig.
Da kämpfte sich die Vampirin frei und sah ihm in die Augen. "Erzähl mir, warum du gegangen warst." Sie schlug ihn. "Erzähl es mir!" Wieder schlug sie ihn. "Erzähl mir die Wahrheit. Erzähl mir einfach alles!"
Als Emilia das dritte Mal ausholte, fing er ihre Faust auf, zog sie an sich und küsste sie ein zweites Mal.
"Ich musste dich beschützen.", erklärte er, nachdem er den Kuss beendet hatte. "Lidia wusste, wie ich mich von den Dakes befreien konnte. Ich musste dich verlassen und ihrem Clan beitreten. Ich konnte dich nicht riskieren! Wenn sie dich hätten, hätten sie dich umgebracht. Verstehst du..."
"Warum hattest du nichts gesagt?", brachte sie tränenerstickt hervor. "Warum musstest du es so schlimm machen...? Ich hätte es verstanden."
Er merkte, wie ihre Beine nachgaben, doch er ließ sie nicht los.
"Ich liebe dich, Emilia. Ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben - wobei es ein ziemlich schlechter Vergleich ist. Wahrscheinlich wirst du mir mein Handeln nie verzeihen können, vor allem -"
"Ich kann dir alles verzeihen...", unterbrach sie ihn leise.
"Vor allem weil... meinetwegen unser Kind... gestorben war...", fuhr er ebenfalls leise fort. "Daniel hat mir davon erzählt."

Sie stockte bei seinen letzten Worten. Ihr Kind... Aber er hatte doch gar keine Schuld daran!
"Du hast damit doch gar nichts zu tun.", entgegnete sie mit brüchiger Stimme. "Du kannst dich nicht für alles beschulden. Bitte verlass mich nur nicht wieder... Ich... werde zerbrechen..."
Er kniff die Augen zu, weil sie sich mit Tränen füllten. Sie hob ihren Kopf, den sie an seiner Brust vergraben hatte, und legte eine Hand sanft auf seine Wange.
"Michael...", flüsterte sie. "Geh nicht. Ich brauche dich. Ich liebe dich..."
Er öffnete seine Augen, die dem Sommerhimmel so ähnelten, und sah sie an. "Mein Sonnenschein, es tut mir so leid für alles...", meinte er gequält.

Das Leben ist kein MärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt