Kapitel 16

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Schon seit fünf Minuten ging er auf und ab. Er war sich nicht wirklich sicher, ob er klingeln sollte. Was, wenn die beiden sich doch nicht freuen würden, ihn zu sehen? Es hatte ja alles ganz plötzlich und unschön geendet.
Zögerlich legte er den Daumen auf die dritte Taste und drückte einmal darauf. Nach wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet und er trat ein, stieg die Treppe hoch und betrat die Wohnung. Daniel begrüßte ihn mit einem Händedruck gleich im Flur. Dann zog dieser die Schuhe an und nahm die Schlüssel vom Hacken an der Wand.
"Wir fahren jetzt.", kündete er an und rief dann: "Cecile, wir gehen!"
"Wartet!", wurde zurückgerufen.
Die Vampirin trat aus dem Wohnzimmer, ein kleines Kind mit kupferfarbenen Löckchen in den Armen haltend.
"Michael, schön, dich wiederzusehen.", sagte sie anklagend.
Er hatte sich von ihr nicht verabschiedet. Und angerufen hatte er sie auch nicht. Aber dieses Mädchen... Es war überraschend, dass Daniel und Cecile jetzt ein Kind hatten. Und sie waren auch verheiratet, wie er an den Ringen auf ihrer beiden Ringfinger erkannte. Er hatte ja vieles verpasst.
Er ging näher zu Cecile und nahm die Hand des Kindes in die Seine, wog sie auf und ab.
"Ich gratuliere.", lächelte er zuerst die Vampirin und dann ihren Ehemann an.
Das Mädchen lachte, als er ihm eine Grimasse schnitt, und es klang so süß.
"Guck mal, Rose, das hätte dein Opa sein können.", flüsterte Cecile ihrer Tochter ins Ohr, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ, und diese lächelte wieder.
Sein Lächeln erstarb jedoch und er drückte leicht die kleine Hand. Musste sie ihn unbedingt daran erinnern...? Er hatte doch nichts dafür, dass es so gekommen war. Es war nur zum Schutz von allen.
"Cecile, bitte!", stöhnte Daniel mahnend auf.
Das Paar wechselte Blicke im stummen Gespräch aus und die Frau seufzte schließlich aufgebend.
"Entschuldige, Michael.", meinte sie.
"Schon okay.", erwiderte er traurig.
"Und jetzt geht.", winkte sie sie beide raus.
Daniel gab ihr einen schnellen Kuss, drückte seine Lippen kurz auf die Stirn des Kindes und ging hinaus.
"Und Michael.", sagte Cecile, womit sie ihn aufhielt und zurückblicken ließ. "Denk jetzt nicht, dass er dir was Gutes zeigen will."
Er nickte nur, winkte Rose mit einem künstlichen Lächeln zu und folgte seinem Bekannten. Es war vorauszuahnen, dass er nichts Schönes sehen würde. Schließlich hatte Daniel letzten Abend auch von schlechten Folgen seiner Abwesenheit gesprochen.
Was er noch bemerkt hatte, war, dass Cecile sich mächtig verändert hatte. Sie war nicht mehr so durchgedreht, sondern hatte eine unmögliche Ruhe gewonnen. Oder lag das vielleicht daran, dass sie ihre Tochter in den Armen hielt? Sie konnte dabei ja schlecht rumzappeln.

Als Daniel gestern zurückkam, hatte er ziemlich gemischte Gefühle gezeigt, die von Freude zur Wut reichten. Sie wusste nicht, mit wem er telefoniert hatte, und erzählen tat er davon auch nicht. Es war schon immer ihr Problem gewesen, dass sie überhaupt keinen Zugang zu den Gedanken ihrer Kinder hatte. Und wahrscheinlich war es auch gut so, denn sonst hätten sie ja gar keine Privatsphäre. Außerdem spürte sie ihre Gefühle umso mehr.
Jedenfalls wusste sie immer noch nicht, was sie sich denken sollte. War Michael, den sie bei dem Konzert gesehen hatte, nur eine Halluzination gewesen oder hatte er sich dort wirklich aufgehalten? Und wenn es der zweite Fall war, was wollte er dann von ihr? ER hatte doch mit ihr schlussgemacht. ER hatte ihr doch gesagt, er hätte sie nie geliebt. Über seine Worte vor drei Jahren zerbrach sie sich bis jetzt noch den Kopf, denn sie widersprachen seinem Verhalten.
"Emilia?", riss Leon sie aus ihren Gedanken. Sie merkte erst jetzt, dass er seine Rede unterbrochen hatte und sie besorgt ansah. "Was ist los mit dir? Du wirkst so verloren."
"Es ist nur... Leon, es tut mir leid, aber... Ich liebe dich nicht. Ich glaube, meinen Geliebten gestern beim Konzert gesehen zu haben."
Es war besser, ihm jetzt davon zu erzählen, als später. Sie wollte nicht, dass er sich Hoffnungen umsonst machte, nur weil sie mit ihm ausging. Wenn Michael doch genauso gehandelt hätte...
"Ich verstehe.", sagte der Vampir und nickte enttäuscht. "Ich wusste, dass dein Herz nicht mir gehört. Aber ich hab gehofft, mich zu irren. Ich habe darauf gewartet, dass du mir endlich sagst, was von beidem denn stimmt."
"Es tut mir leid.", wiederholte sie und senkte beschämt den Blick.
Doch er legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte heiter. "Ach, mach dir keine Sorgen. Wir können ja Freunde bleiben."
Sie hob den Kopf und lächelte mehr oder weniger glücklich zurück.
"Willst du mir von deinem Geliebten erzählen?", fragte Leon und lachte leicht bei folgenden Worten. "Ich meine, ich muss doch wissen, an wen ich dich verloren hab."

Seine Laune stieg deutlich ab, als er den Friedhof im Fenster sah. Nicht, dass er davor irgendwie besonders fröhlich war. Die ganze halbe Stunde der Autofahrt schwieg sowohl Daniel als auch er. Worüber hätten sie schon reden sollen? Alle Themen hätten zu Emilia geführt. Zumindest in seiner Vorstellung war es so, er konnte ja auch über nichts anderes denken. Und obwohl er sie ursprünglich nicht direkt treffen wollte, zerbrach er sich jetzt den Kopf darüber, was er bei einem Gespräch mit ihr sagen und wie er sich verhalten sollte. Er hatte ihr schließlich versichert, er hätte sie nie geliebt - was ja ein völliger Unsinn war! Wie hatte sie ihm überhaupt glauben können?! Was sollte er nun also sagen? Wie sollte er sein Auftauchen erklären? Außerdem... Sie hatte seinetwegen so gelitten, eine Entschuldigung würde das nicht wieder gut machen! Wie sollte sie ihm je verzeihen können, wenn er das sich gegenüber nicht einmal selbst schaffte?
Und... Warum fuhren sie verdammt nochmal auf den Friedhof zu?! Wessen trauriges Ende wollte Daniel ihm zeigen?
"Halt dich im Rahmen, ja?", meinte dieser dann plötzlich abwesend, während er das Auto zum Halt brachte.
Seine Worte machten alles nur noch schlimmer. Wer würde hier ruhen? Es waren doch alle anwesend, die ihm vor drei Jahren besonders wichtig waren. Und eines seiner Kinder konnte es auch nicht sein, niemand lebte in Berlin. Daniel, Cecile und Emilia kannten außerdem keines seiner Kinder. Wessen wegen sollte er also ausrasten? Er wusste nicht genau, ob er es dringender oder lieber gar nicht erfahren wollte.
Er nickte finster und sie beide stiegen aus dem Auto.
"Liebt mich Emilia wirklich immer noch? Nach all dem, was sie wegen mir durchmachen musste?", fragte er leise, als er sich an die Worte seines Bekannten am vorigen Abend erinnerte.
"Ja.", antwortete dieser knapp.
Sie folgten einem schmalen Weg die Gräber entlang und ihm wurde es immer unwohler. Es wurde ihm immer enger in der Brust. Daniel schien sehr in seine Gedanken versunken zu sein und achtete nicht auf seine Umgebung. Es musste etwas wirklich Schlimmes sein.
Schließlich blieb der Vampir stehen und zeigte mit einem Nicken nach rechts.
Als er das Grab sah, fiel er entsetzt auf die Knie. Einem kurzen schönen Vornamen schloss sich SEIN Nachname an. Es war das Grab seines ersten Kindes. Wirklich SEINES.
"Sie wollte, dass er deinem Namen trägt.", fing Daniel mit gefühlloser Stimme an. "Nachdem du gegangen warst, war sie für einige Monate untergetaucht. Cecile und ich hatten angenommen, es sei wegen der Trauer. Als sie jedoch plötzlich zu uns zu Besuch kam, hatte sie einen runden Bauch. Und dann sagte sie, sie würde spüren, dass das Baby tot ist. Wir waren zusammen zum Arzt gegangen, doch der hatte uns versichert, es sei alles gut. Aber der Junge, er war tot..."
Es wäre sein erstes wirkliches Kind gewesen. Ein Junge.
An dem Tag vor drei Jahren, hatte Emilia ihm erzählen wollen, dass sie schwanger war? War sie deshalb so überglücklich gewesen? Und er hatte sie an dem wahrscheinlich schönsten Tag ihres Lebens verlassen. Und dann noch so... Bestimmt war er es, der ihr Kind getötet hatte. Bestimmt war es zu schlimm für Emilia gewesen und wegen so vielen negativen Gefühlen war der Junge gestorben, bevor er überhaupt leben konnte. Er hatte alles kaputt gemacht, doch Emilia hatte dem Kind SEINEN Nachnamen gegeben.
Liebte sie ihn so stark? Wie sollte er wieder ihr Vertrauen gewinnen? Wie könnte er ihr beweisen, dass all die schmerzenden Worte nur Lügen waren? Wie würde sie ihm jetzt jemals glauben können? Und wie sollte er ihr jetzt jemals in die Augen blicken können?
"Michael...", setzte Daniel an, doch dieser unterbrach ihn.
"Ich werde wieder gehen."
Er merkte, wie der Vampir stockte.
"Ehh... Bist du noch überhaupt dicht im Kopf?", entgegnete Daniel unverwandt und verständnislos. "Du kannst das meiner Mutter doch nicht antun. Sie liebt dich. Und du liebst sie. Ihr MÜSST zusammen sein. Ich beiden werdet euch noch umbringen, wenn es so weitergeht. Michael, denk doch zumindest ein bisschen nach!"
Er stand auf, klopfte sich den Schmutz von den Knien ab und drehte sich zu dem Bekannten um.
"Lieben tut sie mich vielleicht noch. Aber kann sie mir auch verzeihen? Ich habe sie so sehr leiden lassen, wie-"
"Michael! Sie beschuldigt dich nicht einmal! Sie will dich einfach nur wiedersehen. Sie hatte nicht ein Mal ein schlechtes Wort über dich gesagt. Erkläre ihr einfach die Situation, sie wird dich nicht davonscheuchen. Warum muss ich dir denn das Offensichtliche beweisen?!"
"Aber man kann einen nicht so sehr lieben!", warf er bitter ein.
"Hättest du meiner Mutter alles verzeiht?", stellte der andere ihm die Fangfrage.
Ja, das hätte er. Auch wenn sie fremdgegangen wäre, hätte er ihr das verzeiht. So sehr liebte er sie. Hätte sie ihn verraten, würde er ihr auch das verzeihen.
Dachte Emilia genauso? Würde sie ihm wirklich alles verzeihen? Auch den Tod ihres Kindes?
"Siehst du, Michael, ihr geht es nicht anders. Geh nicht wieder weg. Tu es auch beiden nicht an.", beendete Daniel.

Das Leben ist kein MärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt