Kapitel 11

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Lidia hatte sich ihre ursprünglich kastanienbraunen Haare in verschiedene Blau- und Lilatöne gefärbt. Ihre großen grau-blauen Augen passten perfekt dazu. Ansonsten war sie ziemlich gothic-mäßig angezogen, sprich schwarze High Heels, schwarze enge Jeans, ein komisches schwarzes Shirt und schwer wirkender Schmuck. Im Moment war es nicht einmal acht und schon an die dreißig Grad Hitze - wie hielt sie es nur aus?
Sie umarmte ihn zur Begrüßung und sah dann ernst an. Er verdrehte die Augen und stellte klar: "Du hast meine Gedanken gelesen."
"Dauert nicht so lange wie es beim Erzählen gedauert hätte."
Sogar mit ihren Schuhen war Lidia etwas kleiner als er, doch er konnte deutlich den Alters- und Machtunterschied spüren.
Sie gingen los und setzten sich auf eine Bank. Es war ihm unwohl dabei, dass Lidia sich noch zu nichts geäußert hatte. Normalerweise hätte sie sich zumindest wegen des Erinnerungen Löschens rechtfertigen wollen.
"Deswegen muss ich mich schon gar nicht rechtfertigen. Wenn ich es damals nicht getan hätte, hätte dich Vincent umgebracht. So wärst du dieser Emilia keine Hilfe.", schnaubte die Vampirin, woraufhin er selbstzufrieden grinste. "Du hinterhältiger...", ärgerte sie sich. "Ich hab genau das getan, was ich eigentlich nicht tun wollte."
"Genau.", stimmte er ihr zu und nickte dabei. "Und jetzt rede endlich, ich hab nicht ewig Zeit."
Na ja, genau genommen stimmte es nicht, er hatte wirklich die ganze Ewigkeit Zeit.
"Na gut. Was macht diese Beleidigung von Vampir eigentlich in Berlin?", fragte Lidia knurrend.
Beleidigung von Vampir... Oh ja, diese Bezeichnung gefiel ihm.
"Du sagst es so, als ob Berlin dir gehören würde.", warf er ein.
"Es gehört auch mir.", entgegnete die Frau mit Nachdruck. "Das ganze nord-östliche Viertel Deutschlands ist mein Eigentum. Sein ist das Süd-östliche. Er verpestet mir hier gerade alles - so eine Schande! Außerdem habe ich ihm nicht erlaubt, meine Ländereien zu betreten, er hat hier nichts zu suchen."
Oh jaa, das war Lidia. Sie hatte sich für ihre Gedanken noch nie geschämt und sie auszusprechen, war für sie auch kein Problem.
"Wenn du dich erinnerst, hat er hier durchaus was zu suchen.", erwiderte er finster. "Und zwar Emilia."
"Ha! Das hier ist MEIN Gebiet. Und wenn das Mädchen von ihm zu mir geflohen ist, dann steht sie halt unter meinem Schutz."
Er hob eine Augenbrau und sah die Vampirin prüfend an. "Warum so großzügig, Lidia?"
"Deinetwegen. Ich habe sie dir versprochen. Und ich halte meine Versprechen."
"Meistens zumindest.", fügte er hinzu und sie neigte den Kopf langsam zuerst nach rechts und dann nach links. Er hatte mit seiner Aussage recht und sie gab es zu.
"Kommen wir zum Schluss.", sagte Lidia dann. "Bei Vincent kannst du auf mich zählen. Und was die Dakes betrifft..." Sie wendete vielsagend den Blick ab.
Er verengte die Augen. "Ja...?"
"Unter zwei Bedingungen werde ich sie los. Du musst Emilia verlassen und wieder meinem Clan beitreten."
Seine Augen weiteten sich und er sah sie mit Entsetzen an. Was verlangte sie da von ihm?! Wie sollte er Emilia verlassen? Genau ihretwegen bat er sie ja um Hilfe! Und was würde es ihr bringen?
Fest sah sie ihm genau in die Augen. "Man kann nicht alles haben. So etwas gibt es nur in Märchen. Und wie du selbst sehen kannst, Michael, sind wir hier weit entfernt von einem Märchen."

Sie kannte die ganze Wohnung schon von A bis Z. Mehrfach hatte sie sich sie vor Langeweile angesehen. Sie konnte einfach nicht still sitzen, solange sie nicht wusste, wo Michael war. Hätte er ihr doch zumindest gesagt, WAS er erledigen musste. So wäre sie jetzt sicherlich ruhiger. Und dann wollte er noch etwas mit ihr bereden. Warum bereitete er ihr solche Qualen des Unwissens? Aber vielleicht war es ja gar nicht so wichtig, dass sie hier deswegen fast durchdrehte. Vielleicht war es wie... Wie was? Welche Themen waren denn wichtig und welche nicht? Mann, dadurch verzweifelte sie nur noch mehr!
Da hörte sie das Klappern der Schlüssel und wie die Tür zuerst aufging und dann wieder zuging. Michael betrat das Wohnzimmer und reichte ihr lächelnd einen Strauß weinroter Rosen. "Ich habe mir gedacht, eine kleine Entschuldigung für meine Abwesenheit wäre nicht schlecht."
Sie lächelte verlegen zurück und roch an den Blumen. Teerosen... Ohh, sie liebte ihren Geruch.
"Dankeschön. War aber wirklich nicht nötig."
"Hey... Ich habe dir noch kein einziges Geschenk gemacht." Mit diesen Worten brachte er ihr aus der Küche eine Vase, halbvoll mit Wasser gefüllt, und sie stellte die Blumen darein, platzierte die Vase auf dem Couchtisch.
Dann setzten sie sich auf das Sofa. Der süße Rosengeruch strömte ihr wohltuend entgegen.
"Nun, erzähle mir endlich, worüber du mit mir reden wolltest.", drängte sie. "Ich zerbreche mir nämlich schon die ganze Zeit den Kopf deswegen."
"Ah, genau.", erinnerte er sich eher ausweichend und fragte dann ohne Umschweife: "Würdest du bei mir einziehen? Ich weiß, es kommt jetzt ziemlich früh und unerwartet, aber na ja..."
Sie stockte überrascht. Bei ihm einziehen? Jetzt? Obwohl sie sich erst seit knapp zwei Wochen kannten? "Michael, ich... ich weiß nicht so recht... Werde ich dich nicht stören? Du kommst doch wahrscheinlich erschöpft von der Arbeit und... Ehm..."
Doch obwohl ihr Zögern ihr so peinlich war, schmunzelte ihr Gegenüber.
"Daniel hatte mich gewarnt, dass du niemandem zur Last zu fallen magst.", erklärte er seine Reaktion. "Aber es wird mich wirklich freuen, wenn du hier einzieht. Kann ich darauf zählen, dass wir jetzt zusammen sind?"
Und da sprach er schon das Problem an, was sie am Morgen so beschäftigte.
"Ja.", antwortete sie eindeutig. Sie war sich ihrer Gefühle sicher. SOLCHE Gefühle hatte sie niemals für jemanden empfunden.
Er lächelte sie glücklich an und sie lächelte genauso glücklich zurück.
"Dann wirst du gleich drei Leute auf einmal noch zufriedener machen. Daniel, Cecile und mich."
Er redete so begeistert auf sie ein, dass sie einfach weich wurde und nachgab. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. "Wenn es wirklich so ist, dann würde ich gern bei dir einziehen."
Michaels Gesicht hellte sich sichtbar auf - nicht zu sprechen davon, dass es zuvor schon einmal passiert war -, er sah sogar ziemlich erleichtert aus. Gab es noch einen Grund, weshalb er sie so intensiv überredete?
Sie verwarf die besorgten Gedanken, um den schönen Moment nicht zu zerstören. Probleme konnten durchaus einige Stunden warten.

Als sie bei Daniel ankamen, sah Emilia ziemlich überrascht aus, als sie ihren Sohn und seine Freundin zu Hause fand. Ihn überraschte das nicht. Selbstverständlich würden die beiden nicht zur Arbeit gehen, solange sie die ganze Wohnung allein zur Verfügung hatten.
Nachdem Emilia dann erzählt hatte, dass sie bei ihm einzieht, gingen die Vampirinnen auf ihr Zimmer, um den Koffer zu packen.
Daniel klopfte ihm nun grinsend auf die Schulter. "Gratuliere. Ich habe nie gedacht, dass deine Idee erfolgreich endet."
Er grinste zurück, während sie sich auf das Sofa setzte, dann wurde er ernst. "Ich habe heute Morgen mit meiner Vampirmutter gesprochen. Wohl oder übel ist sie gerade in Berlin. Sie ist bereit, uns mit Vincent zu helfen, und nimmt Emilia unter ihr Schutz."
Sein Gegenüber weitete überrascht die Augen. "Wow, das ist wahrhaftig ein Glück. Warum bist du dann so unglücklich? Verlangt sie dafür etwas, was du nicht hast?"
"Nein, nein.", schüttelte er gedankenverloren den Kopf. "Nur... Ach egal, nicht wichtig. Ich hab so oder so schon meine Entscheidung getroffen."
Daniel sah ihn beunruhigt an. "Hat sie verlangt, dass du meine Mutter verlässt?"
"Nein...", zögerte er. "Also nicht in diesem Zusammenhang. Egal, vergiss. Sonst hören uns die Mädels ja noch."
Er versuchte, das Thema zu beenden, aber irgendwie wollte es ihm nicht gelingen.
Denn Daniel, der Sturrkopf, gab einfach nicht nach. "Ich verstehe nur nicht, warum sie meine Mutter unter ihr Schutz stellt und dann will, dass du sie verlässt. Wo ist hier der Sinn?"
"E-gal. Ich werde Emilia nicht verlassen und damit ist Schluss.", konterte er schon genervt.
"Na gut. Dann eine andere Frage. Hast du schon darüber nachgedacht, wie du Vincent umbringen kannst? Ich meine, du hast jetzt meine Geschwister, mich und deine Vampirmutter an der Seite, irgendwelche Ideen mussten dich doch besucht haben."
"Wenn ich Lidia habe, brauche ich euch eigentlich gar nicht. Sie wird ihn einfach aus ihrem Gebiet rausschmeißen. Sie hat hier ihren Clan, Vincent wird nicht mit allen kämpfen können.", erzählte er leichthin.
"Er hat auch überall seine Leute.", warf der Jüngere schnaubend ein.
"Daniel. Du stellst dir den Ausmaß an Lidias Clangröße nicht vor."
"Wenn du es so sagst, dann hast du wahrscheinlich recht, ja."
"Obwohl ich Vincent nicht kenne, bin ich mir ziemlich sicher, dass er mit Lidia nicht auf ihrem Territorium kämpfen wird. Sie meinte sogar selbst, dass er nicht so dumm ist."
"Dann...", überlegte Daniel. "denken wir uns jetzt einen Plan für dich und diese Lidia aus?"
"Ja.", stimmte er prompt zu. Er beugte sich vor, Unterarme auf den Knien, und fing an zu überlegen.

Das Leben ist kein MärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt