HARRY
HOLMES CHAPEL - 03.06.2018
*
„ ... und James meinte, ich würde alles falsch machen, obwohl das gar nicht stimmt, ich habe alles gemacht, was er von mir verlangt hat, ich bin sogar wegen ihm von Canterbury hierher in dieses Kaff gezogen und er dankt es mir nicht mal ..."
Wortlos reichte ich Josephine, der neuen Nachbarin meiner Mum und meines Stiefvaters, ein Taschentuch, das sie mir schniefend abnahm und ihre Tränen trocknete. Seit ungefähr einer halben Stunde saß sie nun hier und berichtete mir unter Tränen von ihrem heftigen Streit mit ihrem Freund, James.
Mich interessierte es eigentlich nicht, wieso oder worüber sich die Beiden gestritten hatten. Ich war doch nur hier um meiner Mum zu helfen den Haushalt zu schmeißen, weil sie das mit ihrem gebrochenen Knöchel nicht schaffte, und Robin gerade geschäftlich in den Staaten unterwegs war.
Wenn Gemma sich schließlich nicht dazu ermuntern konnte, ihren 80er-Jahre-Hintern von ihrer Couch in Liverpool nach Hause zu bewegen, blieb mir ja keine andere Wahl.
„Und dann war ich so wütend, dass ich eine Vase nach ihm geschmissen habe, und er hat mich angeschrien und ich habe zurückgeschrien und, oh Gott, es war so schrecklich, dass ich angefangen habe zu heulen und ich bin rausgerannt ..." Weitere Tränen kullerten ihre Wange hinunter und ich reichte ihr ein weiteres Taschentuch.
Abgesehen von „Komm' rein", „Brauchst du irgendetwas?" und „Ich hole mal die Taschentücher ..." hatte ich noch gar nichts gesprochen. Ich bekam auch nicht wirklich Gelegenheit dazu, Josephine redete wie ein Wasserfall.
Zu meinem Pech war meine Mum gerade bei einem Arzttermin im Krankenhaus. Es konnte also noch etwas länger dauern, bis sie mich von meinen Qualen erlöste.
Ich hatte nichts gegen Josephine. Mit der Nerdbrille und den dunklen Haaren, die sie in einem Pferdeschwanz zu tragen bevorzugte, sah sie eigentlich ganz niedlich aus. Ich konnte James verstehen, wieso er sie so süß fand, auch wenn ich ihn nicht wirklich kannte. Aber dass sie redete wie ein Wasserfall, ließ meine Ohren taub werden.
Deswegen konnte ich auch verstehen, wieso James sich langsam als verrückt erklärt hatte, sie zur Freundin gemacht zu haben.
„Aber ich kann auch ohne ihn nicht leben, weil wir uns schon so lange kennen, aber ich hasse ihn im Moment so sehr, ich könnte schreiend gegen eine Wand rennen! – Habe ich dir schon einmal gesagt, was du für ein guter Zuhörer bist, Harry?"
Sichtlich irritiert von ihrem Stimmungswechsel schüttelte ich den Kopf und sie fing an zu lächeln: „Du bist ein guter Zuhörer, Harry. Danke, dass ich mich bei dir ausheulen konnte." Sie wischte die restlichen Tränen weg, doch dann verdüsterte sich ihr Blick wieder und innerlich schlug ich die Hände über den Kopf.
Wie lange hatte dieser Glücksmoment gedauert? Zwei Sekunden?
Jetzt fing Josephine wieder lautstark an zu heulen. Ich unterdrückte einen verzweifelten Seufzer und reichte ihr das siebte Taschentuch innerhalb einer Dreiviertelstunde. Laute Schluchzer erfüllten den Raum. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Sonst konnte ich immer ein charmantes Lächeln aufsetzen und meine Es wird alles gut-Leier runterrasseln, aber ich glaube nicht, dass das jetzt etwas ändern würde.
„Ich glaube nicht, dass du wegen ... James heulen solltest. Das ist es nicht wert, glaub' mir. Es gibt viel bessere Typen", versuchte ich es. Sie sah mich mit rot angeschwollenen Augen an: „Sprichst du aus eigener Erfahrung?"
DU LIEST GERADE
Requiem
FanfictionEr versuchte zu retten, was es zu retten gab. Eines würde er nicht mehr gewinnen können: die unzertrennliche Freundschaft und die bedingungslose Loyalität zu seinen ehemaligen Freunden. Er versuchte zu sichern, was es zu sichern gab. Das Geld, das...