77. Kapitel

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Nachdem Ed die Tür hinter sich geschlossen hatte, trank ich mein Wasser mit der aufgelösten Kopfwehtablette und stand auf. Es würde wohl noch mindestens eine Viertelstunde dauern, bis sie anfangen würde zu wirken. Also entschied ich mich, in Eds Zimmer zurück zu gehen, wo ich mich aufs Sofa-Bett setze und mich daraufhin ausstreckte. Nach ein paar Minuten drehte ich mich um und mein Blick fiel auf einen kleinen Taschenkalender in einem der Regale. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht die Dinge fremder Leute zu durchsuchen. Andererseits war Ed kein Fremder und ich war zudem viel zu neugierig. Also stand ich auf, nahm ich ihn in die Hand und blätterte darin. Es war ein Kalender aus dem Vorjahr. Ich staunte schon zu Beginn, wie schön Ed schreiben konnte. Klar, ich hatte seine Schrift schon gesehen, aber meist bloß schnelle Notizen oder Unterschriften. Hier merkte man, dass er sich mehr Zeit genommen hatte, zumindest im Großteil. Hinten erblickte ich eine Adressliste. Ich blätterte sie durch und erkannte Stuarts Adresse, sowie die einiger anderer seiner mir bekannten Freunde. Ja, es waren sehr viele Kontakte. Mir fiel besonders einer, der einer Nina Nesbitt, ins Auge. Ed hatte daneben ein Herz gemalt, das aber später mit Bleistift wieder durchgestrichen, fast übermalt wurde. Ja, sie war wohl seine Freundin gewesen, da war ich mir sicher. Ich überlegte, wie ich sie mir wohl vorstellen musste und blätterte weiter. Sie war der letzte Kontakt im Adressteil, also blätterte ich nach vorne und ging die einzelnen Wochen durch. Als ich in derselben Woche ankam, in der wir uns gerade befinden, aber eben ein Jahr zuvor, war ich verwundert: Laut des Kalenders war übermorgen der Geburtstag von Eds Bruder. Ich hielt inne.  Ehrlich gesagt, hoffte ich schon so lange seine Familie zu treffen. Immerhin kannten wir beide uns jetzt schon mehr als fünf Monate und meine Familie hatte er schon kennengelernt. Andererseits wusste ich, dass er mich mitnehmen würde, sobald er bereit war. Und das war er wohl noch nicht. Ich wusste nur nicht, warum. Wenn ich es mir aber genauer überlegte, war Ed ja noch überhaupt nicht lange zurück, wir hatten uns noch nicht endgültig ausgesprochen, sondern das Thema, wenn überhaupt, nur so halbwegs angeschnitten. Es war gut gewesen, dass wir einfach weitergemacht hatten, denn ohne den Alltag, der uns eingeholt hatte, wäre ich vermutlich noch immer richtig sauer auf Ed. Trotzdem mussten wir nochmal miteinander reden und uns entgültig über sein Verschwinden aussprechen.
Nachdenklich klappte ich also den Kalender wieder zu und als ich ihn in das Regal zurückstellte, merkte ich, dass meine Kopfschmerzen noch immer da waren. Also entschied ich mich bloß leise etwas Musik laufen zu lassen, und schaltete das Radio ein. Irgendeine kratzige Frauenstimme sang. Darauf setzte ich mich in den Sessel am anderen Ende des Zimmers. Ich dachte nach. Und kurze Zeit darauf kam alles über mich. Es brach herein wie eine Welle. Und ich wusste nicht einmal genau woher sie kam oder wohin sie führen sollte. Ich war so froh, dass Ed wieder da war, dass mir einen solchen Liebesbeweis durch das Lied gemacht hatte. Ich war froh, dass es Nelly soweit gut ging. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich mich selbst in letzter Zeit immer mehr verloren hatte. Seitdem Ed weg war, aber auch jetzt immer noch. Seit einigen Wochen war ich immer wieder an dem Punkt angekommen, an dem ich alles, was ich tat, in Frage stellte. Mein Studium war mir derzeit einfach nicht mehr wichtig. Ich hatte keinen Spaß mehr an dem Studienfach, das ich vor einem Jahr ganz verzweifelt ausgewählt hatte, weil ich damals nicht gewusst hatte, was ich machen sollte. Ich war die letzten Tage einfach nicht zu meinen Vorlesungen hingegangen. Und je mehr ich darüber nachdachte, wollte ich auch nicht mehr hingehen. Dabei war ich nie jemand gewesen, der so einfach aufgab. Aber ich glaube sogar, dass ich nicht von aufgeben sprechen kann, denn ich hatte nie für dieses Fach gekämpft. Es war nie eine Herausforderung gewesen, vielmehr eine Notlösung. Eine Notlösung, die zu einem bedrückenden Notfall geworden war. Ich dachte noch einige Zeit darüber nach, ehe ich einen Entschluss fasste: Ich drehte das Radio leiser, nahm das Telefon in die Hand und wählte die Nummer der Universitätsleitung. Ich nannte meinen Namen, meine Daten und endete mit dem Wunsch "Ich möchte mich aus dem Fach ausschreiben lassen. Ich werde im nächsten Wintersemester in ein neues Bewerbungsverfahren, vielleicht auch an einer neuen Universität, einsteigen". Daraufhin legte ich auf und blickte auf den Hörer. Ich konnte nicht glauben, was ich soeben getan hatte.

Photograph♡ -Ed Sheeran FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt