Kapitel 9

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Als ich die Arme spürte, die sich um meinen fallenden Körper schlossen und mich damit vor einem äußerst unsanften Sturz bewahrten, fragte ich mich, warum solche Peinlichkeiten eigentlich immer mir passieren mussten.

Liv hatte sich noch nie in der Cafeteria der Schule Essen in die Bluse geschmiert oder jemanden die Schließfachtür ins Gesicht geknallt.

Schlimm genug, dass ich gestolpert und hingefallen wäre – so hatte mich dabei auch noch jemand beobachtet.

Das Adrenalin rauschte noch in meinen Ohren, sodass ich eine Weile brauchte, bis ich mich bei meinem Retter entschuldigen konnte.

Dann hab ich meinen Kopf an und unsere Blicke trafen sich.

Und plötzlich war es, als würde die Zeit stillstehen.

Seine Augen waren von einem dunklen schokobraun, wie Zartbitterschokolade so dunkel und trotzdem versprühten sie eine anziehende Wärme. Sie zogen mich derart in den Bann, dass ich den Blick nicht abwenden konnte – nur, wollte ich das auch gar nicht. Alles andere war völlig belanglos, es zählte nur noch er.

Es kam mir vor, als würde sich die Welt nur noch um ihn drehen.

Er war meine Erdanziehungskraft.

Ich wusste nicht, wie lange wir uns so ansahen, denn ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ich wusste nur, dass er meinen Blick ebenso intensiv erwidert hatte.

Irgendwann – viel zu früh – löste er den Blick jedoch und stellte mich behutsam auf dem Boden ab.

Erst jetzt musterte ich ihn genauer: Er hatte kurzes, schwarzes Haar, das ihm fransig ins Gesicht hing, und ein leichtes Grübchenkinn. Seine Kleidung war schlicht, ein einfaches langes T-Shirt und eine Jeans. Und ich fand ihn wahnsinnig attraktiv.

„Ich bin Embry", sagte er schließlich und lächelte mich schüchtern an. Sowohl sein Name als auch seine tiefe, angenehme Stimme ließen etwas bei mir klingeln: Er war der Typ gewesen, der zu spät gekommen war.

„Ava." Ich erwiderte sein Lächeln und ignorierte mein klopfendes Herz.

~

Bald tauchte Jacob auf. Er musterte erst mich, dann Embry forschend, sagte jedoch nichts.

War es so offensichtlich, dass ich völlig von der Rolle war?

Schließlich sagte er: „Ich wär dann fertig. Sollen wir wieder runter gehen?“

Ich nickte und wartete aus dem Augenwinkel Embrys Reaktion ab.

„Ja, gehen wir wieder ans Feuer.“ Er klang abwesend, als wäre er mit den Gedanken gerade Meilen weit weg und doch spürte ich von der Seite seinen Blick auf mir, der mir ein Kribbeln verpasste.

Jacob ging voran, Embry machte das Schlusslicht. Ich fühlte mich ziemlich beobachtet, während wir wieder zu den anderen gingen, aber ich wusste nicht, ob ich mir das nur einbildete.

Die anderen waren in ihre Gespräche vertieft und reagierten kaum, als wir uns wieder zu ihnen setzten. Nur ging Embry nicht wieder zu seinem ursprünglichen Platz, sondern blieb bei Jacob und mir. Setzte sich sogar neben mich.

„Ich hab gehört, dass du mit Jacob an einem Bike geschraubt hast“, fing er irgendwann das Gespräch an, nachdem wir alle drei eine peinlich lange Weile auf das Feuer gestarrt hatten.

„Naja, eigentlich hat nur Jacob geschraubt“, meinte ich lachend. „Aber jetzt läuft es wieder.“

„Du warst der seelische Beistand“, lachte Jacob.

„Gehört es dir?“, fragte Embry und sah mich neugierig an. Begeisterung flackerte in seinen dunklen Augen.

„Meinem Bruder.“

Embry nickte und sah wieder ins Feuer, was mich verunsicherte. Doch dann drehte er den Kopf wieder zu mir und lächelte mich an.

Mein  Herz setzte aus.

„Und wie kommt’s, dass du heute hier bist?“, fragte er mich und sah mich weiter an.

„Ich muss eine Hausarbeit über die Legenden der Natives schreiben, deswegen hab ich einfach mal irgendwo hier geklingelt.“

„Billy hat sofort bei Harry sturmgeklingelt, ob es klargeht, dass Ava heute mit kann“, mischte sich Jacob neben mir ein.

Embry lachte. „Jetzt ergibt das mit dem Block auch Sinn.“
Ich lächelte unsicher. Das war so sehr aufgefallen? Oh Gott, wie peinlich.

Schließlich war es schon kurz nach Mitternacht und ich musste nach Hause.

Ich verabschiedete mich von allen und bedankte mich noch einmal bei Billy. Der meinte lächelnd: „Kein Problem, Ava. Du bist jederzeit willkommen.“

Jacob umarmte mich wieder und meinte, ich solle mich unbedingt mal wieder blicken lassen.

Und mein Herz setzte wieder aus, als Embry sagte: „Ich bring dich noch zu deinem Wagen.“ Schweigend gingen wir hinter das Haus der Blacks, wo ich geparkt hatte. Nur eine spärliche Straßenlaterne erleuchtete hier die Straße, sodass wir nicht komplett im Dunkeln standen.

„Danke fürs Begleiten“, sagte ich leise, als wir vor meinem Wagen standen, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

Er lächelte. „Gerne.“ Dann schwieg er kurz, bevor er unsicher fragte: „Gibst du mir deine Handynummer?“
Ich hatte das Gefühl, die Schmetterlinge flogen jetzt kreuz und quer durcheinander. Im ersten Moment war ich sprachlos. Embry sah mich erwartungsvoll und schüchtern an. „Äh – ja, klar“, brachte ich schließlich heraus.

Er reichte mir sein Handy und ich tippte meine Nummer ein.

„Dann – äh – fahr ich mal.“ Ich lächelte ihn an.

„Komm gut nach Hause, Ava.“ Seine Stimme war sanft.

Mit gemischten Gefühlen stieg ich in meinen Wagen und fuhr nach Hause. Und ich fragte mich, ob ich gerade Liebe auf den ersten Blick erlebt hatte.

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Ja, ich gebe zu, dass ich mich auf dieses Kapitel bisher am meisten gefreut habe ;D
Glaubt ihr an Liebe auf den ersten Blick? Oder geht eurer Meinung nach sowas gar nicht?

this is lycanthropy (Embry Call)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt