Kapitel 25

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Endlich flossen die Tränen. Sie liefen und liefen, wie in Sturzbächen, meine Wangen entlang, tränkten mein Kopfkissen. Seit Noahs Unfall hatte ich kein einziges Mal geweint; einfach, weil ich keine Zeit dafür gehabt hatte. Er hatte mich gebraucht. Jetzt prasselte alles, was sich seit dem Unfall angestaut hatte, wie ein schweres Gewitter auf mich ein, während ich, unter meiner Bettdecke verkrochen, hysterisch schluchzend diesem Gewitter freien Lauf ließ.

Meine beste Freundin war wütend auf mich und ging mir aus dem Weg, weil ich nicht wollte, dass sie mit einem blutsaugendem Vampir, der hier in der Stadt sein Unwesen trieb und noch dazu mit meinem besten Freund abhing, der seitdem kaum mehr ansprechbar war, ausging.

Außerdem terrorisierte dieser Vampir meinen Freund, der sich in einen riesigen Wolf verwandeln konnte und der es nicht für nötig gehalten hatte, mich zu verteidigen.

Und als wäre das nicht alles schon genug, meinte meine Mutter jetzt wieder genau das sein zu müssen: Eine Mutter. Und das hatte meinem behinderten Bruder gleichzeitig wegen mir auch noch ziemlichen Ärger eingebrockt.

Ich konnte nicht sagen, was davon mich am meisten belastete - wahrscheinlich die Tatsache, dass gerade alles auf einmal zusammen kam.

Ich wusste nicht, wie lange ich so da lag, als mich plötzlich ein lautes Geräusch erschrocken hochfahren ließ. Mittlerweile war es dunkel; ich war wohl irgendwann eingeschlafen.

Ich sah in meinem Zimmer umher, konnte das Geräusch aber nicht zuordnen. Gerade als ich es schon als Einbildung abtun wollte, hörte ich es erneut.

Es kam von meinem Fenster. Erledigt vom Weinen und vom Schlaf rappelte ich mich unbeholfen aus meinem Bett auf und schlurfte zum Fenster, um nachzusehen, was genau dieses Geräusch verursachte.

Unsanft zog ich die Vorhänge beiseite und spähte in die Dunkelheit.

Ein kaum in der Dunkelheit erkennbarer Embry war gerade dabei, wieder einen Stein nach oben zu werden, als er mich bemerkte. Sofort hielt er in der Bewegung inne und ließ seinen Arm langsam sinken.

Einen Moment lang konnte ich nur reglos nach draußen starren, überrascht über sein Auftauchen.

Dann öffnete ich das Fenster.

„Embry? Was machst du hier?", fragte ich leise. Ich hatte nicht sonderlich viel Lust, meine Familie - und vor allem meine Mutter - aufzuwecken.

Statt auf meine Frage zu antworten, stellte er mir unsicher eine Gegenfrage: „Darf ich hochkommen?"

Alles in mir kreischte laut ja; doch dann schaltete sich mein Gehirn mit ein. „Ja. Nein." Ich holte tief Luft. „Ich kann dich nicht reinlassen, ohne dass meine Mum es mitbekommt."

Embrys Grinsen war selbst im Dunkeln deutlich erkennbar. „Das ist kein Problem."

Bevor ich nachhaken konnte, fügte er noch hinzu: „Geh lieber ein paar Schritte vom Fenster weg."

Stirnrunzelnd folgte ich seinem Rat - und keine zwei Sekunden später stand er auch schon vor mir in meinem Zimmer. Er hatte sich unten abgestoßen und an meinem Fenstersims - im ersten Stock! - hochgezogen.

Sprachlos starrte ich in an. Wenn ich vorher noch aufgelöst gewesen war, so war jetzt alles wieder in Ordnung.

Einfach weil er jetzt da war.

Aber meine noch feuchten Augen verrieten, dass es das vorher nicht gewesen war.

Wortlos ging er langsam auf mich zu und mit jedem Schritt verkrampfte sich meine Bauch vor Aufregung. Ich fragte mich, ob seine Wirkung auf mich irgendwann einmal schwächer werden würde.

Als er schließlich dicht vor mir stand, brachte ich es nicht über mich, den Kopf zu heben und in seine schokobraunen Augen zu sehen.

Embry hob die Hand und wischte sanft die Tränen von meinen Wangen. Fast lautlos flüsterte er: „Es tut mir leid, Ava."

„Ist schon in Ordnung", sagte ich heiser.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich konnte dich nicht verteidigen, weil Sam uns befohlen hat, jeden aus der Sache rauszuhalten."

Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er hatte es nicht gekonnt! Innerlich ohrfeigte ich mich dafür, an ihm gezweifelt zu haben. Er hatte mir schon von den Regeln innerhalb des Rudels erzählt: Wenn Sam als Alphatier einen Befehl erteilte, musste das restliche Rudel Folge leisten, ob es wollte oder nicht.

Ich legte meine Hände in seinen Nacken und zog ihn so noch ein Stück näher. „Tut mir leid, dass ich deswegen wütend auf dich war, obwohl du gar nichts dafür konntest", flüsterte ich.

Embry sah mich an, nur wenige Zentimeter von mir entfernt, und ich konnte hören, wie sich seine Atmung beschleunigte. Anstatt etwas zu erwidern, küsste er mich.

Ich wollte, dass er ewig damit weiter machte, doch er löste sich sofort wieder von mir. „Aber irgendwas ist noch, oder?"

Ich schwieg.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Ava, du kannst nichts vor mir verheimlichen. Ich spüre, dass dich sonst noch was belastet."

Mit einem Seufzen ließ ich mich rückwärts auf das Bett fallen und begann, Embry von meinem misslungenem Tag zu erzählen.

this is lycanthropy (Embry Call)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt