Psychose - Montag

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Ich hab gestern nicht fertig geschrieben. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, als ich wieder aus diesem Fenster geguckt habe. Ich komme mir ziemlich albern vor. Die Angst, die ich letzte Nacht hatte, ist jetzt sehr verschwommen und unsinnig.
Ich kann es nicht mehr erwarten, rauszugehen und das Sonnenlicht zu sehen. Ich guck jetzt nur noch mal nach meinen E-Mails, gehe mich rasieren und duschen und dann bin ich hier raus...
Moment mal, ich glaub, ich hab was gehört...

Das war Donner!
Aus dem ganzen Sonnenlicht- und Frische-Luft-Vorhaben wurde nichts. Ich stieg die Treppe hoch und fand oben nur Enttäuschendes vor. Auf dem kleinen Fenster der Haustür sah ich nur Wasser hinabfließen, draußen regnete es in Strömen. Es war sehr düster draußen, aber zumindest war es mit Sicherheit Tag, ein düsterer, nasser und grauer Tag. Ich blickte angestrengt nach draußen und wartete darauf, dass ein Blitz die Düsternis erhellte, aber alles, was ich durch das fließende Wasser ausmachen konnte, waren undeutliche Formen.
Enttäuscht drehte ich mich um, aber ich hatte keine Lust, in mein Zimmer zurückzukehren. Stattdessen ging ich nach oben, zuerst in den ersten und dann in den zweiten Stock. Die Treppe endete im dritten Stock, dem höchsten Stockwerk des Gebäudes. Ich versuchte, einen Blick durch das Glas zu werfen, das in die Außenwand eingelassen war, aber da war nur dieses dicke, verzerrende Glas, durch das man nicht durchschauen kann. Nicht dass es bei diesem Wetter draußen was zu sehen gäbe.

Ich öffnete die Tür zum Treppenhaus und ging den Flur entlang. Die ungefähr zehn Türen, die vor langer Zeit mal blau gestrichen waren, waren alle geschlossen. Ich lauschte, während ich ging, aber da es mitten am Tag war, überraschte es mich nicht, dass ich nur den Regen draußen hören konnte.
Als ich so im Flur stand und dem Prasseln des Regens zuhörte, hatte ich den unterschwelligen Eindruck, dass die blauen Türen dastanden wie lautlose Monolithe aus Granit, die von irgendeiner längst untergegangenen Zivilisation aufgestellt wurden, um irgendwas zu bewachen.
Ein Blitz zuckte und ich hätte schwören können, dass das alte blaue Holz kurzzeitig wie rauer Stein aussah. Ich lachte über mich selbst, dass mir meine Fantasie so einen Streich spielen konnte, dann überlegte ich, dass da irgendwo ein Fenster sein musste, denn es war hier ja düster und geblitzt hat es auch. Eine vage Erinnerung tauchte auf und plötzlich fiel mir ein, dass es in der Mitte des Flurs eine Nische mit einem eingelassenen Fenster gab...

Gespannt darauf, in den Regen hinaus und vielleicht ein anderes menschliches Wesen zu sehen, ging ich schnell hinüber zur Nische mit dem großen, dünnen Glasfenster. Der Regen wusch es ab, so wie beim Fenster in der Haustür, aber dieses hier ließ sich öffnen. Ich streckte eine Hand aus, um es aufzuschieben, aber ich zögerte. Ich hatte das Gefühl, dass ich, wenn ich dieses Fenster öffnen würde, etwas furchtbar Schreckliches erblicken würde. Alles war ohnehin merkwürdig in letzter Zeit, deswegen machte ich einen Plan und kam wieder hier herunter, um zu holen, was ich für die Ausführung meines Plans brauchte. Ich glaube zwar nicht, dass sich daraus was ergibt, aber mir ist langweilig, es regnet und ich werde schier wahnsinnig.
Ich bin heruntergekommen, um meine Webcam zu holen.
Das Kabel reicht beim besten Willen nicht bis in den dritten Stock, deswegen werde ich sie zwischen den Getränkeautomaten im dunklen Teil meines Gangs verstecken und das Kabel an der Wand entlang und unter meiner Tür durchführen. Außerdem klebe ich es mit schwarzem Klebeband ab, damit es sich farblich nicht mehr von der Fußleiste unterscheidet. Ich weiß, das ist albern, aber ich hab sonst nichts zu tun …

Ich habe eine ältere, nicht so gute Webcam aus meinem Schrank geholt, die ich für Videochats mit meinem Kumpel benutzte.
Ich konnte ihm nicht wirklich erklären, warum ich unbedingt per Video chatten wollte, aber es war ein gutes Gefühl, mal das Gesicht einer anderen Person zu sehen.
Er hatte nicht viel Zeit und wir haben uns über unwichtiges Zeug unterhalten, aber trotzdem fühle ich mich viel besser.
Meine merkwürdige Angst ist schon fast vergangen. Ich könnte mich blendend fühlen, hätte an dem Gespräch nicht irgendwas nicht gestimmt. Ich weiß, dass ich erwähnt habe, dass an allem irgendwas nicht stimmt … aber er war sehr schwammig in seinen Antworten. Ich kann mich an nichts Spezifisches erinnern, kein spezieller Ort, kein Name oder Termin … aber er hat nach meiner E-Mail-Adresse gefragt.
Oh da kommt gerade eine E-Mail.

-

Ich geh gleich raus. Ich habe gerade eine Mail von Amy bekommen, in der sie mich gebeten hat, »an unserem üblichen Ort« mit ihr zu Abend zu essen. Ich liebe Pizza und ich esse schon seit Tagen irgendein Zeug aus meinem spärlich bestückten Kühlschrank, deswegen kann ich es kaum erwarten. Ich komme mir wieder albern vor angesichts der letzten Tage. Ich sollte dieses Journal vernichten, wenn ich zurückkomme.
Oh, noch eine Mail.

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Oh mein Gott. Ich hätte fast die E-Mail liegen lassen und die Tür geöffnet. Ich hätte fast die Tür geöffnet!. Aber ich hab zuerst die E-Mail gelesen! Sie war von einem Bekannten, von dem ich schon lange nichts mehr gehört habe und sie ging an sehr viele Leute, anscheinend sein ganzes Adressbuch. Sie hatte keinen Betreff und als Text nur Folgendes:

»gesehen mit deinen eigenen augen traue ihnen nicht sie«

Was zum Henker sollte das bedeuten? Die Wörter schockieren mich und ich lese sie wieder und wieder. Ist das eine verzweifelte E-Mail, die abgesetzt wurde, als … etwas passierte?
Der Satz wurde offensichtlich in der Mitte abgeschnitten! An jedem anderen Tag hätte ich so eine Mail als Spam von einem Computervirus oder so was verworfen, aber diese Worte – gesehen mit deinen eigenen Augen! Ich kann mir nicht helfen, ich gehe dieses Journal durch und denke über die vergangenen Tage nach. Ich habe nicht eine einzige Person mit meinen eigenen Augen gesehen oder mit irgendjemandem persönlich geredet. Der Videochat mit meinem Freund war so merkwürdig, so vage, so … unheimlich, jetzt wo ich drüber nachdenke. War er unheimlich? Oder vernebelt die Furcht meine Erinnerungen? Ich spiele in Gedanken mit dem Ablauf der Ereignisse, die ich hier aufgeschrieben habe und es stellt sich heraus, dass mir nicht ein einziger Fakt untergekommen ist, dem ich nicht misstraut habe.
Der Kerl, der sich verwählt hat und meinen Namen gehört hat, der darauf folgende seltsame Rückruf von Amy, der Kumpel, der nach meiner E-Mail-Adresse gefragt hat – ich hab ihn gleich angeschrieben, als ich gesehen habe, dass er online war!
Und ich bekam die erste Mail ein paar Minuten nach dieser Unterhaltung! Oh mein Gott! Dieses Telefongespräch mit Amy! Ich sagte über das Telefon – ich sagte, dass ich nur eine halbe Stunde von der siebten Straße weg wäre! Sie wissen, dass ich in der Nähe bin! Was, wenn sie versuchen, mich zu finden? Wo sind alle anderen? Warum hab ich niemanden gehört oder gesehen in den letzten Tagen?

Nein, nein, das ist verrückt.
Das ist vollkommen verrückt.
Ich muss runterkommen. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben.

Ich weiß nicht was ich denken soll. Ich bin wie wild durch mein Apartment getigert und hab mein Handy in jede Ecke gehalten, auf der Suche nach einem Signal. Wenigstens im Bad hab ich was, in einem Eck an der Decke. Ein einziger Balken. Ich hab mein Handy dort hin gehalten und eine SMS an jede Nummer in meinem Telefonbuch geschickt. Um nichts von meinen grundlosen Ängsten zu verraten, sendete ich einfach:

Hast du in letzter Zeit mit irgendwem persönlich gesprochen?

An diesem Punkt war ich schon um jede Rückmeldung froh.
Es war mir egal, was das für eine Rückmeldung war und wie sehr ich mich blamiert habe. Ich hab ein paar Mal versucht, jemanden anzurufen, aber ich hab meinen Kopf nicht weit genug hochbekommen und das Handy nur einen Zentimeter zu senken reichte schon, dass das Netz weg war. Dann fiel mir mein Rechner ein und ich rannte hin und schrieb alle an, die online waren. Die meisten waren untätig oder gerade nicht da. Meine Nachrichten wurden immer verzweifelter und ich fing mit an, mit fadenscheinigen Begründungen den Leuten zu sagen, wo ich war und ob sie nicht mal vorbeischauen könnten. An diesem Punkt war mir alles egal. Ich musste nur jemanden sehen!

Ich hab auch meine Wohnung auseinandergenommen, während ich etwas suchte, was ich vielleicht übersehen habe:
einen Weg, andere Menschen zu kontaktieren, ohne die Tür zu öffnen. Ich weiß, das ist verrückt, ich weiß, das ist unbegründet, aber was wäre wenn?
WAS WÄRE WENN?
Ich will mir nur sicher sein.
Ich hab das Handy an die Decke geklebt, für alle Fälle.

-Fortsetzung folgt-

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