Schwesterherz

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Das Geräusch von Fäusten, die auf Glas treffen, weckt mich.
Es ist nicht besonders laut, aber rhythmisch regelmäßig genug, um mich in meinem ohnehin leichten Schlaf zu stören.
Es hört nicht auf. Immer wieder scheinen kleine Fäuste gegen das dünne Glas meiner Balkontür zu hämmern. Langsam, ganz langsam schärfen sich meine Sinne. Ich bin zwar ein Nachtmensch, aber um halb fünf Uhr morgens würde kein normaler Mensch gegen meine Tür pochen. Ich richte meinen Blick angespannt vom Wecker auf meiner Kommode zum Schreibtisch, auf welchem immer noch die Hausaufgaben für Montag liegen und lasse ihn dann vorsichtig in Richtung Balkontür wandern. Mit dem Schlimmsten rechnend, schärfe ich den selbigen.   

Zugegeben, der Anblick einer Achtjährigen, in schneeweißem Nachthemd und leeren, schwarzen Augen, hätte den meisten Menschen wahrscheinlich einen Herzstillstand beschert. Ich persönlich habe mich aber daran gewöhnt. Das „Wesen“, welches an die Scheibe pocht, ist meine kleine Schwester.
Sie ist seit ihrer Geburt blind. Ihre dunkelbraunen Augen wirken bei schwachem Licht fast schwarz. „Geh schlafen Amy!“ flüstere ich ihr kaum hörbar zu. Ihr Gehör ist extrem gut ausgebildet. Es ist kaum möglich, etwas zu sagen, ohne dass sie es mitbekommt. Ich weiss nicht wie sie es schafft, komplett, ohne irgendetwas zu berühren, durch unsere Wohnung navigiert, aber sie kann es. Sie hat sich noch nicht ein einziges Mal verletzt.
„Ich hatte einen schlimmen Traum. Kann ich bei dir schlafen?“ flüstert sie mir entgegen. „Nein. Geh wieder schlafen!“ „Bitte.“ jammert sie. „Also gut. Warte kurz.“ Genervt stehe ich auf.  

Noch etwas schlaftrunken torkle ich zur Tür und öffne sie. Ihr Zimmer liegt neben meinem und ist über einen Balkon mit jenem verbunden.  Seit jeher kümmere ich mich um sie. Unsere Eltern sind dauernd auf Geschäftsreise, bei Freunden oder sonst wo. Sie sind so gut wie nie zuhause. Wir haben alles, was wir brauchen. Ein riesiges Haus, einen stets gefüllten Kühlschrank, eine Putzfrau und alles, was es an Spielzeug und Elektronik so auf dem Markt gibt. Trotz allem habe ich das Gefühl, dass sie uns nicht wirklich lieben. Ich koche, ich bügle, ich erziehe … und ich liebe. Man könnte praktisch sagen, dass ich meine Schwester alleine großziehe. Ich nehme ihre Hand. Sie fühlt sich kalt an. Der Regen tropft immer noch auf die verrosteten Schaukeln und Rutschen.
Meine Eltern waren damals der Meinung, dass ein Spielplatz im Garten ihre fehlende Liebe wieder wettmachen würde.
Tja, falsch gedacht.
Ich interessierte mich nicht nicht dafür und meine Schwester auch nicht. Wie auch? Verächtlich wende ich meinen Blick ab und schliesse die Tür. Ich setze das zitternde Etwas aufs Bett. „Die Schatten sind wieder da. Sie sind gekommen, um mich zu holen. Sie rufen nach mir. Ich will sie nicht mehr hören. Bitte, mach, dass sie gehen.“ Ich frage mich zwar bis heute, was blinde Menschen träumen und ob sie auch Farben und Konturen haben, antworte aber in einem beruhigenden Tonfall: „Natürlich. Sie werden dir nichts tun.“ „Kannst du mir eine Geschichte vorlesen?“ Meine Schwester liebt Geschichten. Manchmal sitzt sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer und hört sich mit einem CD-Player Hörbücher an. Da ich ohnehin nicht mehr schlafen kann und morgen Sonntag ist, gehe ich zum Bücherregal und suche nach einem Märchenbuch. Ich lese selbst sehr gerne und habe inzwischen eine halbe Bibliothek zusammen gesammelt. Wie gesagt, Geld spielt keine Rolle.   

Sie ist anders als andere in ihrem Alter. Weiter. Vielleicht nicht geistig oder motorisch, aber dennoch weiter.   

Da ich nichts finde, greife ich willkürlich zu und ziehe einen dicken Wälzer heraus. Ich setzte mich zurück zu ihr aufs Bett, lege meinen Arm um ihre Schulter und beginne zu lesen. Seltsam, ich kann mich gar nicht an das Buch erinnern. Aber bei so vielen Büchern, die ich schon gelesen habe, ist das auch kein Wunder. „Es war einmal ein tapferer Held, der sich sehr um seine Familie sorgte. Eines Tages wurde er sehr krank und erblindete.“
Ich stocke. Das kann doch nicht sein. Aber ihr scheint es zu gefallen, also lese ich weiter. „Ihm erschien ein weiser Zauberer der ihm sagte, dass er ihn retten könne. Allerdings müsse er dafür etwas opfern, das er liebe.“ Die Zeit vergeht, aber Amy schläft nicht ein.
„Auf dem Gipfel des Berges sprach der Held zum Zauberer: Nun weiser Mann, ihr müsst es wissen. Also gut, ich opfere meine … Schwester?“.
Das ist der Punkt, an welchem ich aufhöre. Mit müdem Gesichtsausdruck schaut sie zu mir auf. „Warum liest du nicht weiter?“ Ich überlege kurz. Sanft streiche ich ihr über das kurze, braune Haar. „Den Rest lese ich dir später vor.“ „Wann ist später?“ „Weiss ich noch nicht“, antworte ich wahrheitsgemäss. Ich stehe auf und krame ein „Gutenachtgeschichten für Kinder“-buch aus dem Regal. Diese sind zwar allesamt Klassiker, die sie vermutlich schon in und auswendig kennt, scheinen mir aber angemessener. Es dauert nicht lange, bis ihr Kopf in meinen Schoss fällt und ihre Atmung ruhiger wird. Vorsichtig hebe ich sie hoch. Da ich keine Lust auf weitere nächtliche Besuche habe, bette ich ihren Kopf auf ein Kissen und decke sie zu. Mein Bett ist eh viel zu gross. Ich hoffe allerdings, dass sie nicht noch einmal aufwacht. Die Alpträume plagen sie schon seit Längerem. Ich fange langsam an, mir Sorgen zu machen. Während sie friedlich schlummert, sehe ich mir das Buch genauer an. Ein blauer Einband. „Maumaujanische Märchen“, steht in einer kunstvollen Schrift darauf geschrieben. Nie gehört. Das Buch hat mein Interesse geweckt. Ich lege mich aufs Bett und fange an zu lesen. Seltsam. Die Geschichte von vorhin ist nicht mehr zu finden.  Stattdessen finde ich nun einen Liebesroman vor. Er fängt spannend an, also lese ich weiter.   

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