Psychose - Unbekanntes Datum

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Ich habe tagein, tagaus ruhig nach Stift und Papier gefragt, so lange, bis sie es mir endlich gegeben haben. Was sollte ich damit schon tun, mir etwa die Augen ausstechen?
Der Verband fühlt sich schon an wie ein Teil von mir.
Der Schmerz ist fort. Ich denke, dies wird meine letzte Gelegenheit sein, leserlich zu schreiben, bevor meine Hände die richtigen Bewegungen vergessen, ich sehe ja meine Fehler nicht mehr. Das ist wohl eine Art Maßlosigkeit, dieses Schreiben … das ist ein Relikt aus einer anderen Zeit, denn ich bin mir sicher, dass sonst jeder in der Welt tot ist – oder noch etwas viel Schlimmeres.

Ich sitze den ganzen Tag an die gepolsterte Wand gelehnt, tagein, tagaus. Das Wesen bringt mir Essen und Wasser. Es maskiert sich als eine fürsorgliche Krankenschwester oder als unsympathischer Doktor.
Ich glaube, es weiß, dass sich mein Gehör sehr verbessert hat, seitdem ich in Dunkelheit lebe. Das Wesen fälscht Gespräche im Flur, auf gut Glück, dass ich mithöre. Eine der Schwestern redet darüber, dass sie bald ein Kind haben wird. Einer der Ärzte hat seine Frau in einem Autounfall verloren. Nichts davon spielt eine Rolle, nichts davon ist real. Nichts davon erreicht mich, nicht so wie sie...

Das ist der schlimmste Teil, mit dem kann ich kaum umgehen. Das Wesen kommt zu mir, verkleidet als Amy.
Es ahmt sie perfekt nach.
Es hört sich genauso an wie Amy und fühlt sich so an wie Amy.
Es produziert sogar falsche Tränen, die es mich auf seinen lebensechten Wangen spüren lässt. Als es mich hier reingeschleppt hat, hat es mir alles erzählt, was ich hören wollte, dass sie mich liebt und immer geliebt hat, dass es nicht versteht, warum ich das getan habe und dass wir immer noch ein gemeinsames Leben beginnen könnten, wenn ich nur aufhören würde, darauf zu bestehen, dass ich getäuscht werde. Es wollte, dass ich glaube, sie wäre echt.

Ich bin fast drauf reingefallen, wirklich. Ich hab mich lange Zeit selbst angezweifelt. Am Ende war das alles aber zu perfekt, zu lückenlos und zu real.
Die falsche Amy ist anfangs jeden Tag gekommen, dann jede Woche und irgendwann gar nicht mehr … aber ich glaube, dass das Wesen nicht aufgeben wird.
Ich glaube, das Abwarten ist nur eine weitere seiner Spezialitäten. Ich werde für den Rest meines Lebens dagegen ankämpfen, wenn es sein muss.
Ich weiß nicht, was mit dem Rest der Welt passiert ist, aber ich weiß, dass dieses Ding immer noch darauf hinarbeitet, dass ich auf seine Täuschung hereinfalle. Vielleicht, aber nur vielleicht, bin ich ihm deswegen ein Dorn im Auge. Vielleicht ist Amy da draußen noch irgendwo am Leben, nur durch meinen Widerstand am Leben gehalten. Ich klammere mich an diese Hoffnung, während ich in meiner Zelle auf und ab gehe, damit die Zeit vergeht. Ich werde niemals aufgeben, ich werde mich niemals brechen lassen.
Ich bin ein Held!

-

Der Arzt las den Zettel, auf den der Patient gekritzelt hatte.
Es war kaum zu lesen, denn er war beschrieben in der zittrigen Handschrift von jemandem, der nichts sehen konnte. Er wollte über die Standfestigkeit des Mannes lächeln, eine Erinnerung an die Menschheit, zu überleben, aber er wusste, dass dieser Patient komplett wahnsinnig war.

Immerhin wäre ein geistig gesunder Mann schon vor langer Zeit auf die Täuschung hereingefallen.

Der Arzt wollte lächeln, er wollte diesem Mann ermunternde Worte zuflüstern. Er wollte schreien, aber die Nervenfasern, die um seinen Kopf liefen und in seinen Augen endeten, ließen ihn nicht. Stattdessen ging er wie eine ferngesteuerte Puppe in die Zelle des Mannes und erklärte dem Mann wieder einmal, dass niemand versuchen wolle, ihn zu täuschen.

-Ende-

💗Yüah danke an alle fürs Lesen und die Stern🌟chen 💗

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