Aufbruch nach Wellington
Am nächsten Morgen schlief ich aus und öffnete meine verschlafenen Augen erst gegen 10 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt waren Karen und Sue längst Richtung Flughafen entschwunden, weil an diesem Vormittag ihre Weiterreise nach Sydney anstand. Unser australischer Surferboy schlief noch immer den Schlaf des Gerechten. Er war sicher wieder sehr spät ins Bett gekommen. Ich genoss eine erfrischende Dusche, stärkte mich mit einem ordentlichen Frühstück und zottelte schließlich gen Busbahnhof los, von wo aus ich einen Bus gen Thames, einer Kleinstadt auf der Halbinsel Coromandel, nehmen wollte. Die Fahrt dorthin dauerte mit dem InterCity-Bus nur ein dreiviertel Stunden, die ich eigentlich damit verbringen wollte, ein bisschen in meinem Reiseführer zu lesen, was mich an Sehenswürdigkeiten auf der Coromandel-Halbinsel erwarten würde. Aber wie immer hatte ich die Rechnung ohne meine Backpacker-Kollegen aus aller Herren Länder gemacht. Denn kaum hatte ich meinen gemütlichen Fensterplatz eingenommen, da setzte sich auch schon ein junger Mann neben mich und stellte sich ohne große Umschweife als Arnaud aus dem schönen Städtchen Bordeaux an der französischen Atlantikküste vor. Anders als die meisten anderen Backpacker, die ich bisher getroffen hatte, war er weder Student noch auf dem Weg dahin. Arnaud hatte sich der Kunst des Kochens verschrieben, was ja einem Franzosen durchaus gut zu Gesicht stand.
Nach einigen Stationen in verschiedenen Mittelklassehotels seines Heimatlandes hatte er eine neue Herausforderung gesucht und war auf Anraten eines Freundes hierher gekommen. Einen Job in Wellington hatte er auch schon so gut wie sicher, weil dieser Freund auch über gute Kontakte am anderen Ende der Welt verfügte und ihn mit entsprechenden Angeboten versorgt hatte. Das entscheidende Vorstellungsgespräch sollte erst zwei Wochen später stattfinden und so genoss er die die freie Zeit so wie ich, um Land und Leute näher kennen lernen zu können. Natürlich sah er sich als Botschafter der großartigen französischen Küche und wollte den Neuseeländern zeigen, was die Grand Nation kulinarisch alles zu bieten hat. Für meinen Geschmack klang das alles ein wenig zu patriotisch, was wohl auch ein wenig typisch deutsch ist. Schließlich tun wir uns weit schwerer als andere Nationen unser Heimatland positiv zu sehen und positiv zu verkaufen. Aber alles in allem war das Gespräch mit ihm recht unterhaltsam und kurzweilig und als ich in Thames ausstieg, versprach ich ihm, mal bei seiner neuen Arbeitsstelle vorbeizuschauen, um mich von seinen Kochkünsten überzeugen zu lassen.
Thames schien nicht gerade zu den Hauptattraktionen Neuseelands zu gehören. Die Mehrzahl der Mitreisenden blieb jedenfalls im Bus sitzen, der seine Fahrt Richtung Süden fortsetzte. Außer mir waren nur zwei Pärchen ausgestiegen, was zumindest dafür sprechen konnte, dass es hier ganz romantisch zuging. Für mich als allein reisenden Single war das natürlich nicht gerade von Vorteil. Dennoch war ich mir sicher, dass ich hier eine nette Zeit haben würde, und außerdem hatte ich ohnehin nur zwei Übernachtungen in Thames eingeplant.
Nachdem ich im Hostel eingecheckt und mich ein wenig erfrischt hatte, machte ich mich daran, Thames zu erkunden. Die Stadt wirkte auf mich eher verschlafen, was allerdings bei einer Einwohnerzahl von knapp 7000 auch nicht wirklich überraschend war. Man mag es kaum glauben, dass Thames in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts eine der größten und wichtigsten Städte in Neuseeland war. Diese Bedeutung verdankte die Stadt einem wahren Goldrausch, der am 10. August des Jahres 1867 seinen Anfang nahm, als ein gewisser William Hunt Gold im Kuranu-Fluss fand. Die Nachricht sprach sich natürlich in Windeseile herum und schon kamen die Glücksritter aus allen Himmelsrichtungen, um sich ihr ganz persönliches Stück vom Glück abzuschneiden. Durch diesen Sog stieg die Bevölkerungszahl auf bis zu 18.000 an und es befanden sich circa 100 Hotels in der Goldgräberstadt. Zu diesen Zeiten muss die Stadt ein wahrer Sündenpfuhl gewesen sein und dennoch so bedeutungsvoll, dass es schon Spekulationen gab, wann sie Auckland als bedeutendste Stadt in der Region ablösen würde. Aber die Geschichte hatte diese Rolle für das kleine Städtchen Thames nicht vorgesehen, und so versank sie langsam wieder in einer Art Dornröschenschlaf, als der Goldrausch versiegte und die Glücksritter ihre Claims in anderen Regionen der Welt absteckten. Aus diesem Dornröschenschlaf war Thames bis zu meiner Ankunft nicht erwacht und es hätte schon einer besonders attraktiven Prinzessin bedurft, um das zu ändern. Aber immerhin konnte sich die Stadt damit schmücken, dass es hier die erste Börse Neuseelands gab und das älteste noch in Dienst befindliche Krankenhaus.
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The Big OE- Begegnungen in Neuseeland
AdventureThe Big OE ist in Neuseeland ein geflügeltes Wort und steht für die mehrmonatige Auslandreise mit entsprechenden Erfahrungen und Erlebnissen, die jeder Neuseeländer mindestens einmal im Leben unternehmen sollte, bevor er sich endgültig in der idyll...