Siebter Brief: Ertrinken

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Mit dir

{hat es mir

nichts ausgemacht

zu ertrinken, weil du

meine Luft

warst}

lebe ich.


Jonathan,

heute hat Jayden meine Hand gehalten.

Er und Anna haben mich zum Singen überredet, kannst du dir das vorstellen? Ich habe ein Lied gesungen, das ich selbst geschrieben habe – Dark Dreams, vielleicht erinnerst du dich noch daran. Ich habe es dir nämlich einmal hier für dich gesungen. Hoffentlich hast du es gehört.

Aber, Jonathan – als Jayden meine Hand gehalten hat, da hat es sich nicht falsch angefühlt.

Er hat es nur gemacht, um mir Mut zu geben, damit ich auch wirklich singe, aber – es hat sich nicht falsch angefühlt.

Ich will ehrlich zu dir sein.

Du weißt, dass ich dich liebe, Jonathan, das tue ich wirklich.

Aber wenn ich jetzt nach deiner Hand greife – okay, um ehrlich zu sein, halte ich sie schon mit der anderen Hand, während ich das hier schreibe – dann bist du kalt. Es fühlt sich kalt an.

Und Jaydens Hand war warm. Es hat sich warm angefühlt.

Wie ein kleines Kerzenlicht, über das man die Finger hält, oder mit dem Zeigefinger durch die Flamme fährt, so wie du es immer tust – genauso hat es sich angefühlt.

Wie Hoffnung.

Aber er ist nicht du. Und das verwirrt mich.

Weißt du, Jonathan, in manchen Momenten fühle ich mich, als wäre ich endlich, nach so lange Zeit, wieder nach Hause gekommen. Als hätte ich einen Ort, oder besser, einige Menschen, zu denen ich zurückkehren kann, wenn es draußen in Strömen regnet und Leute, die mir eine heiße Schokolade hinstellen, vielleicht auch mal einen Rooibos-Tee, wenn ich gerade Lust darauf habe.

Früher warst du der Einzige, bei dem ich mich Zuhause gefühlt habe.

Aber Anna fühlt sich wie eine Schwester an. Und Cassie hat so viele Fehler gemacht, aber ich weiß, dass sie immer für mich da ist, und dass sie versuchen wird, mich aufzufangen, wenn ich falle.

Und Jayden... ich weiß nicht, was Jayden für mich ist.

Aber er hat mir ein bisschen Wärme geschenkt, Jonathan, weil du es im Moment nicht kannst. Und ganz vielleicht kann er mir noch mehr davon geben.

Denn, Johnny, mir war so lange kalt.

Und gerade jetzt, in diesem Moment, wenn der Herbst draußen mal wieder mit Regen an die Scheiben klopft, und nur deine Stille mit mir spricht in all der Einsamkeit und all der Leere – da kann ich nicht anders, als meine Hand aus deiner zu lösen, auch wenn es schmerzt, und meine Arme um mich zu schlingen.

Mir ist so kalt, Jonathan, mir ist so kalt.

Ich habe das Gefühl, ich verliere alles aus den Augen.

Ich weiß nicht mehr, was ich fühle, ich bin so verwirrt, alles ist so verworren.

Und ich habe nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken, denn Anna hat keine Zeit mehr, und ich will so gerne noch mehr Momente mit ihr erleben.

Ich – Jonathan, ich verliere die Welt aus den Augen.

Ich verstehe nichts mehr. Alles, was vorher so klar war, verschwimmt.

Als würde der Fluss meiner Gefühle nicht nur mich, sondern meine gesamte Welt ertränken.

Aber weißt du, ich bin unter Wasser und ich schnappe nach Luft, keuche und ringe nach Atem, aber meine Lungen füllen sich nur mit immer mehr Wasser, und ich ertrinke – und mit weit geöffneten Augen kann ich sehen, wie alle anderen atmen.

Bin es wirklich nur ich, die ertrinkt an ihren eigenen Gefühlen?

Die es einfach nicht schafft?

Und du, Jonathan – du hast immer die Bürde der ganzen Welt auf deinen Schultern getragen, weil du es für selbstverständlich hieltest. Und ich gehe schon an meiner eigenen zugrunde. Dabei ist meine Welt doch so klein. Aber in mir, Jonathan, in meinem Herzen, da ist sie groß, da ist sie riesengroß.

Ein riesiger Ozean, und ich kann nicht mehr schwimmen ohne dich.

Hörst du?

Hörst du mich?

Hörst du denn nicht, wie ich mich am Leben verschlucke und huste und es mir im Hals stecken bleibt?

Es ist zu groß für mich. Das Leben.

Wenn ich meine Augen zumache und versuche, es mit meinem Herzen zu erfassen, zu erblicken, dann kann ich es nicht einmal mehr ganz sehen, weil es so groß ist.

Es ist, als stünde ich vor einer Wand und kann nur gerade aus gucken.

Deswegen fehlt in meinem Sichtfeld ein Teil, ein wichtiger Teil.


Du.

Du fehlst.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt