23 - Anna: Tiefgrellsterne

65 6 4
                                    


Ich hatte immer Angst vorm Sterben. Nicht vorm Tod. Wenn ich weg bin, wird es mich nicht mehr interessieren, also kann der Tod nicht sonderlich schlimm sein – zumindest, wenn man nicht an das Fegefeuer glaubt oder an die Hölle.

Aber nein, der Tod hat mir nie Angst gemacht. Nur das Sterben. Ich hatte Angst vor dem Schmerz.

Aber jetzt –

Sterben ist leicht. Jetzt, wo ich es wirklich tue. Das leichteste der Welt.


Ich wache auf und bin in einem sonnengefluteten Meer. Über mir schweben Seepferdchen und Delfine, so klein wie meine Finger.

Ich blinzle. Das Mobile und die hellgelbe Zimmerdecke verwischen ineinander, dann lösen sie sich. Meine Sicht wird klarer.

„Jay?"

Wie klein meine Stimme ist.

Ich sterbe wirklich, denke ich. Ich sterbe.

„Anna", sagt er, und als ich ihn höre, kann ich ihn orten und drehe leicht den Kopf.

Da ist er, da sind sie alle: Mama, Papa, Jayden und Evelyn. So blau sind sie. Ertrunkene in diesem Meer. Meinem.

Dabei bin es doch ich.

„Das war's, oder?", krächze ich und sehe meinen Bruder an. Seine Augen sind eingesunken und rot gerädert, er hat nicht geschlafen, und die dunklen Schatten darunter sind Ebenbilder meiner Sicht.

Ich sehe trotzdem, dass er weint, als er leicht den Kopf neigt. Ja.

Keine Überraschung, und es fühlt sich trotzdem seltsam an. Dabei hatte ich es doch erwartet.

Ich nicke. „Wie lange?"

Diesmal antwortet er nicht, ich bemerke, wie sein Adamsapfel sich hoch und runter bewegt, mehrmals, als hätte er einen Frosch im Hals.

Steckt die Wahrheit darin fest?

Mamas Stimme ist dunkel vor Schmerz. „Sie haben gesagt, dass du noch höchstens einen Tag hast. Eher weniger."

Ich kann sie kaum ansehen.

Ich weiß, dass sie verdient hat, dass ich sie ansehe. Das haben sie alle.

Aber Mama, Papa... sie sind Eltern. Sie machen sich Sorgen – haben es immer getan, immer zu viel getan. Es ist schwer, zu verstehen, dass ihre Liebe darin besteht, mich so sehr beschützen zu wollen, dass sie mich eingesperrt haben.

Aber das ist okay. Muss es sein.

Sie müssen mich ja zumindest jetzt gehen lassen.

Ich drehe also den Kopf leicht zum Fenster. Draußen ist es hell, Wolken verdunkeln den Himmel. Schade. Ich hätte mir gewünscht, er hätte noch einmal die Farbe von Jaydens Augen.

„Wie viel Uhr ist es?", murmle ich.

„Halb drei." Papa. Erst jetzt wird mir klar, dass er es ist, der meine Hand hält. So fest. Das überrascht mich: Ich hatte gedacht, er hätte schon eher seinen Frieden mit meinem Schicksal geschlossen, zumindest mehr als Mama. Jetzt wirkt er verzweifelt. Er will mich immer noch nicht gehen lassen.

Dieses Mal kann ich es verstehen. Dieses Mal rebelliere ich nicht dagegen.

Den Käfig meines Körpers – so lange wie möglich behalten. So lange eingesperrt sein wie möglich.

Ein Tag.

Das werde ich nicht durchhalten. Ich weiß aus Büchern und der Schule, dass es immer am schlimmsten ist, wenn man keinen Schmerz mehr spürt.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt