19 - Anna: Waldluftlachen

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Als ich am Morgen nach der versauten Wandertour aufwache, ist mir weniger schlecht als in den Tagen davor, und ich nehme mir vor, das als Ermutigung zu nehmen.

Es ist sowieso keine schlechte Idee, mit Jay und Evelyn abzuhauen.

Zumindest versuche ich mir das schon die ganze Zeit zu sagen. Was soll passieren? Dass mein Zustand sich verschlechtert? Ich habe mit Resignation festgestellt, dass er viel schlechter wohl nicht mehr werden kann.

Ich schüttle den Kopf, um mich abzulenken. Ich sollte mich fertig machen. Für Jayden und Evelyn, die bald hier sein müssten – in einer Dreiviertelstunde, wie ich mit einem raschen Blick auf die Uhr erkenne.

Vorsichtig stehe ich auf, will nicht, dass mir vielleicht doch wieder schlecht wird und aus meiner fixen Idee nichts wird, weil ich den ganzen Tag vor der Kloschüssel hocken und mir die Seele aus dem Leib kotzen muss.

Zum Glück ändert auch eine aufrechte Haltung nichts daran, dass ich mich heute besser fühle als gestern, und ermutigt mache ich mich auf den Weg zum Badezimmer. In tapsenden, wackelnden Schritten.

Ich seufze.

Heute werde ich den Rollstuhl nehmen.


Als ich knappe vierzig Minuten später unten stehe und mein Bruder und Eve das Foyer betreten, schenke ich ihnen ein aufmunterndes Lächeln.

Ich weiß, dass sie sich Sorgen machen, ob das hier wirklich eine gute Idee ist. Und auch wenn ich selbst Zweifel habe – die muss ich verbergen, sonst kann ich gleich vergessen, dass wir heute irgendwo hin fahren.

Mit einem Grinsen falle ich in Jaydens Arme, als er bei mir angekommen ist. Er riecht nach Deo und Minze.

„Du hast ja gute Laune", stellt mein Bruder fest und in seiner Stimme liegt unverhohlene Verwunderung.

„Ja, habe ich", gebe ich zurück, während ich mich von ihm löse und auch Evelyn umarme. Sie hat schon wieder tiefe Augenringe. Und ist zu blass. Und hat zu viel Traurigkeit in ihren blauen Augen.

Für einen Moment zieht das meine Stimmung etwas herunter, aber dann schlucke ich, drücke sie fester an mich und verspreche mir selbst, dass dieser Tag gut werden wird und wir alle Spaß haben werden.

„Und, wohin geht's?", frage ich, als ich wieder vor den beiden stehe. Ich habe sie gebeten, sich etwas auszudenken und mich zu überraschen.

Doch Jayden hebt bloß neckend die Augenbrauen.

„Wenn ich dir das sagen würde, wäre es dann noch eine Überraschung?", fragt er und grinst mich schelmisch an.

Ich verdrehe die Augen. „Blödmann", sage ich, lächle dann aber.

Er grinst zurück, bevor er mir wie ein Gentleman seinen Arm zum Einhaken anbietet. Jetzt wird mir doch etwas mulmig zumute, als ich langsam den Kopf schüttle. Mein Bruder sieht mich überrascht an und die Verwirrung auf seinem Gesicht ist nicht zu übersehen. Auch Evie sieht mich abwartend an.

Ich seufze und mache eine Geste mit der Hand, die auf den Rollstuhl zeigt, der hinter mir an der Wand lehnt und wartet.

Jaydens Miene verdunkelt sich ein klein wenig, aber dann muss er sich wohl denken, dass es besser so ist, denn er lächelt schnell wieder.

„Na dann rein mit dir", fordert er mich auf und ich komme der Aufforderung nach, sanft zurücklächelnd.

Als ich sitze, tritt Evelyn hinter mich und beginnt dann, den Rollstuhl in Richtung Ausgang zu schieben. Ich bin damit beschäftigt, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mein Herz hüpft und wie aufgeregt ich bin, damit die Pfleger nicht merken, dass wir etwas anderes vorhaben als einen kleinen Spaziergang draußen auf der Wiese oder einen kurzen Trip zu irgendeinem Laden. Denn mehr ist mir eigentlich nicht erlaubt – zumindest nicht ohne ärztliche Begleitung.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt