8 - Anna: Seegraublau

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Ich wache auf mit stechenden Kopfschmerzen. Als ich ins Bad gehe, um eine Tablette Aspirin zu nehmen, sehe ich mich im Spiegel. Ich sehe nicht länger aus wie ich, und stattdessen sehe ich im makellosen Glas den Tod.

„Du stirbst", sage ich zu meinem Spiegelbild, zu dem Mädchen mit den stumpfen Haaren und den leeren Augen und der blassen Haut. Zu dem Mädchen, das genau das weiß. Sie stirbt.

Ich sterbe.

Weißt du noch?

Damals, als wir

Noch wir waren?

Diesmal schreibe ich die Worte vorsichtig und mit Bleistift in das Notizbuch, das Jayden mir vor ein paar Monaten gekauft hat und das ich wahrscheinlich nicht mehr füllen werde.

Gedankenverloren fahre ich mit dem Finger über die Seiten, bevor ich die, auf der ich schreibe, glatt streiche.

Im Sandkastensand spielten wir bis unsere Finger verklebt waren. Mit weißen Sommerkleidern und dunkelblauen Jeans voller Grasflecken sprangen wir, rannten wir, lachten wir, ein ganzes Leben aus Momenten.

Deine Augen – Sommerhimmelblau.

Während ich an Jayden denke und daran, dass es tatsächlich mal eine Zeit gab, in der wir Hoffnung hatten, beginnen die Worte, aus meinen Fingern zu fließen.

Weißt du noch?

Damals, als wir

Noch wir waren?

Die erste Träne löst sich und tropft auf die Seite. Auf einmal bin ich froh, nicht zum Füller gegriffen zu haben.

Mit Papierschiffchen spielten wir bis unsere Finger ganz steif wurden. Mit sonnenhellen Haaren und durchtränkten Schuhen voll Sand hüpften wir, rannten wir, lachten wir im Regen der grauen Wolken.

Dein Regenschirm – Butterblumengelb.

„Es tut mir leid, Jay", murmele ich. Und das tut es wirklich: es tut mir leid, dass ich krank geworden bin, es tut mir leid, dass ich sterbe, es tut mir leid, dass ich ihm wehtun werde.

Weißt du noch?

Damals, als wir

Noch wir waren?

Ich weiß es noch. In meinem Kopf sind die Bilder noch so klar. Aber immer, wenn ich Jay sehe, sehe ich in seinen Augen Erschöpfung. Er ist so müde. Und ich auch. Aber ich werde ohnehin bald schlafen.

Im Herbstblätterwind spielten wir bis unsere Füße müde wurden. Mit Tränen in den Augen und frohem Händegeben liefen wir, gingen wir, lachten wir im Wind, der die Zeit forttrug.

Dein Lächeln – Kunstskulpturengrau.

Auf einmal ertrage ich den Gedanken nicht mehr und schmeiße den Bleistift in die Ecke, reiße die Seite aus dem Notizbuch, knülle sie zusammen, schmeiße sie weg. Aber ich kann nicht verhindern, dass mein verdammter Verstand weiter Worte ausspuckt.

Weißt du noch?

Damals, als wir

Noch wir waren?

„Weißt du noch?", frage ich in die friedliche Stille des Morgens, und dann robbe ich zum Mülleimer und fische die Papierkugel wieder heraus, entfalte sie und glätte die Seite.

Im weißen Winterschnee taten wir, als spielten wir, bis wir nicht mehr konnten. Mit Flocken auf der Kleidung und Eiseskälte im Herzen sprachen wir, stritten wir, gingen wir in der Ruhe nach dem Sturm.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt