Elfter Brief: Der Wind flüstert mir ins Ohr

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Und vielleicht

Kann der Lärm

All die Gefühle

Übertönen

{die Gefühle

Für dich}


Ich sitze auf der Autobahnbrücke und kritzle die Worte in mein Notizbuch.

Die Autos sind so laut, der Wind ist so laut, die ganze Welt ist so wahnsinnig laut, und du schweigst.

Ich glaube, ich bin deswegen hergekommen.

Um zu hören, wie das Echo meiner Erinnerungen mir davon zuflüstert, wie du mir die drei Worte zum ersten Mal gesagt hast.

Weil du sie mir schon viel zu lange nicht mehr gesagt hast. Und weil es keine gibt, die ich lieber hören wollen würde.

Du hattest mir deine Jacke gegeben und ich war darin eingekuschelt.

Wir saßen nebeneinander, auf der Brücke, wie an dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal näher gekommen sind, und die Autos unter uns waren genauso laut wie jetzt, und der Wind fuhr uns durch die Haare und ich weiß, dass du mir eine Strähne hinters Ohr gestrichen hast, die eine Böe in mein Gesicht geweht hatte.

Es war schon dunkel – jetzt ist es noch hell.

Vielleicht bleibe ich sitzen, damit ich die Sterne sehen kann, und damit ich mich besser an all die Worte erinnern kann, die du in dieser Nacht zu mir gesagt hast.

Jedenfalls – du hast mir eine meiner Strähnen hinters Ohr gestrichen.

Du hast mich angeschaut, von der Seite, während ich das Treiben und all die Hektik unter uns beobachtete.

„Schau mal", habe ich irgendwann gesagt. „Wie schnell."

Da hast du deinen Kopf nach vorne gedreht und auch hinunter geblickt, auf die Länge der Autobahn, die sich unter uns erstreckte, auf all die Fahrzeuge, die vorbeibrausten, all die Lichter und all die Menschen.

Minutenlang hast du nichts gesagt, und ich auch nichts.

Dann, einfach so, aus dem Nichts.

„Vielleicht, weil schnell alles schöner aussieht."

Du hast die Worte in einem Tonfall gesagt, der mir zeigte, dass du nicht damit meintest, schnell sei alles schöner.

Daraufhin habe ich dich angesehen, aber du hast weiter auf die Straße geguckt, die endlose, dunkle, laute Straße unter uns.

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Welt im Zeitraffer viel schöner aussieht?", hast du gefragt, und ich habe auch auf die Straße gesehen, und mich an all die Filme und Serien erinnert.

„Stimmt", habe ich geantwortet.

Wieder haben wir eine Weile geschwiegen. Und vielleicht war es, weil die Zeit in dem Moment auf der Autobahnbrücke immer in einem Vakuum zu stehen scheint. Vielleicht war es, weil die Hektik unter uns und die Ruhe, die Friedlichkeit hier oben ein Paradoxon waren – sind, auch jetzt.

Vielleicht war es auch, weil uns in dem Moment Gryphius' Eitelkeit einmal mehr verdeutlicht wurde.

Und vielleicht war es, weil du auf einmal wolltest, dass du nicht mehr damit warten musstest. Weil die Zeit nicht wartet, sondern weiterläuft. Weil du vielleicht Angst davor hattest, es irgendwann vergessen zu haben, und es nicht mehr sagen zu können.

Egal, aus welchen Gründen es war.

„Ich liebe dich", hast du gesagt, und deine Stimme war tief und dunkel und rau wie die Nacht und ihre Vergänglichkeit um uns herum.

Dann hast du dich endlich wieder zu mir gedreht und mich angesehen, und dein Blick hat sich mit meinem verhakt, bis auch wir in einem Vakuum gefangen waren.

„Ich liebe dich", hast du wieder gesagt, eindringlicher diesmal, fester.

Ich habe in deinen Augen die Wahrheit in deinen Worten gesehen.

Und dann habe ich es zurückgesagt. „Ich liebe dich", habe ich geflüstert, weil meine Stimme vor Rührung nicht funktionieren wollte.

Ich liebe dich.

Ich liebe die Art, wie du nach meiner Hand greifst. Ich liebe die Art, wie du meine Haarsträhnen zurückstreichst, wenn eine Windböe sie mal wieder nach vorne geweht hat. Ich liebe die Art, wie du leuchtest, wenn wir nebeneinander auf der Autobahnbrücke sitzen und uns erzählen, dass wir uns lieben.

Ich liebe die Art, wie du es mir erzählst. Als wären es die einzigen Worte, die du für wichtig erachtest auf dieser Welt.

Und ich liebe, wie du schmeckst und riechst und ich liebe, wie deine Stimme klingt, wie dein Atem klingt, wenn du schläfst oder wenn du mich von hinten umarmst und dein Gesicht für ein paar Augenblicke in meinen Haaren vergräbst.

Ich liebe, wie dein Herz schlägt, wenn ich mein Ohr auf deine Brust lege.

Ich weiß, dass du mich auch liebst.

Und manchmal, manchmal, da bilde ich mir ein, deine Arme um mich zu spüren, dein Gesicht in meinen Haaren, deine Hand, die meine ganz fest hält.

Manchmal bilde ich mir ein, deinen Duft noch immer in deinem Hoodie riechen zu können, oder dein Leuchten neben mir zu spüren.

Gerade bilde ich mir ein, deine Stimme zu hören.

„Ich liebe dich", sagst du, und deine Stimme klingt genauso wie sie immer geklungen hat, und du sagst die Worte, als wären sie die Einzigen, die du kennst.

Aber ich weiß: Das ist nur der Wind, der mir ins Ohr flüstert.

Und mein Herz, das unbedingt will, dass du diese Worte sagst.

Mein dummes, dummes Herz.

Denn die Liebe ist zu rau, zu wild, zu tobend.

Und sie sticht wie Dorn.

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Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt