Zweiter Brief: Zerbrechlich wie die erlöschenden Sterne

260 24 0
                                    

Es ist alles eitel

sagtest du –

vergänglich

Lieber Jonathan,

Heute haben wir in der Schule zum ersten Mal etwas von Gryphius gelesen – du erinnerst dich bestimmt an den Moment, in dem du das Papier aufgelesen hast, das aus meiner Tasche gefallen war. Du liefst hinter mir – zufällig, schätze ich, obwohl ich eigentlich nicht mehr an Zufälle glaube.
„Ist das dir?", fragtest du mich. Ich drehte mich um, und da standst du: du, mit deinen dunklen Haaren, die noch nass waren vom Regen draußen und mir so verrieten, dass du wieder zur Schule gelaufen warst, und deinen maskierten Augen, der Bühne zu all deinen Gefühlen, die tanzen wollten vor einem großen Publikum. Aber du hast sie hinter einen Vorhang gesperrt. Und dabei sind sie doch so wunderschön, deine Gefühle. So einzigartig. So wintertagsdunkel, so sommernachtshell, und so voller Liebe für etwas, das du nicht verstanden hast.
„Oh, ja, danke", antwortete ich und wollte es dir aus der Hand nehmen, aber du bist einen Schritt zurückgegangen, einen kleinen nur, damit ich dich nicht mehr erreichen konnte. Du hast die Augenbrauen hochgezogen, beide, und den Titel vorgelesen: ‚Es ist alles eitel'.
„Vergänglich", sagte ich, weil ich unbedingt erklären wollte, dass eitel noch eine andere Bedeutung hat, eine ältere, die deswegen aber nicht Belang hat.
„Ich weiß", sagtest du, und deine Stimme war so voller Bedeutung, dass ich sie kaum noch ertragen konnte, weil etwas darin lag, dass mir zeigte, wie gewichtig deine Worte waren. Deine schreienden, stürmenden Worte. Die niemand hörte. Und niemand hören wollte. Vielleicht bedeuten sie zu viel.
Ich will sie hören. Jedes einzelne. Du kannst damit um dich werfen und sie herauskreischen, du darfst sie zerreißen, damit ich sie klebe, und du darfst sie neu erfinden. Wenn du sie nur endlich sagst. Und nicht mehr schweigst.
Die Stille hat so viel Bedeutung bekommen, dass sie schrecklich laut geworden ist.
Ich will mir die Ohren zuhalten, aber ich habe Angst, dass ich sie verpasse. Deine Worte. Deine Stimme. Wenn du die Gefühle endlich tanzen lässt. Und sie würden tanzen; und schreien und singen und fliegen würden sie auch. Wie Vögel. Oder Motten. Mit zerbrechlichen Flügeln.
„Es ist, als wären meine Flügel kaputt", hast du mal gesagt. „Zerbrochen, weil zu viele Leute sie nicht sehen und darauf herumtrampeln, weil sie blind geworden sind."
„Tun sie weh? Deine kaputten Flügel?", habe ich gefragt.
„Ja", sagtest du.
Da habe ich sie zum ersten Mal gesehen, deine Flügel: schwarz wie die Nacht, die du so sehr liebst, und zerbrechlich wie die erlöschenden Sterne. Aber ganz. Du hast so viel gesehen, mit deinen zartbitterschokoladenbraunen Augen, aber deine Flügel nicht. Die konntest du nur spüren, aber dein Herz war schon voll mit Gefühlen. Du hast sie nicht gefunden, deine wunderschönen mitternachtsschwarzen Flügel.
Ich sehe sie. Und sie gehen kaputt an der Stille. An deiner. Und auch an meiner. Aber wem soll ich meine Worte sagen, wenn du der Einzige bist, der sie versteht?

Alles Liebe,

Evelyn

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt