Dreizehnter Brief: Ich vertraue Dir

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Weil unser

Für immer

Für immer

Viel zu kurz bleiben würde


Ich saß so, so oft auf diesem Stuhl, an diesem Bett. Ich saß hier so oft in diesem ewig langem halben Jahr, und habe deine Hand gehalten. Habe dich angefleht, zurückzukommen, deine Augen aufzuschlagen, tausende Male.

Es ist ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass dieses hier vielleicht das letzte Mal ist.

Dass ich vielleicht nächstes Mal kommen werde, um dich zu besuchen, während du deine Kräfte wiederaufbaust. Dich, wenn du wieder bei mir bist. Und mich immer noch genau so sehr liebst wie bevor all dies passiert ist.

Wir können es einfach vergessen, dieses halbe Jahr. Es einfach hinter uns lassen. Es ist quasi nie passiert.

Nein, warte, das geht nicht.

Ich kann nicht so tun, als wäre nichts von alledem passiert. Weil ich sonst Anna und Jayden nie getroffen hätte.

Und so gerne ich auch die Zeit zurückdrehen würde und den Autounfall verhindern würde, ich kann es nicht tun.

Denn wahrscheinlich hätte ich dann an dem Nachmittag, an dem ich Jayden getroffen habe, nicht an dem Tisch in dem Café mit den Marzipanrosen gesessen. Oder ich hätte mit dir dort gesessen, und ich bezweifle ernsthaft, dass Jayden mich – uns – dann angesprochen hätte. Wahrscheinlich hätte ich auch nie eingewilligt, mich mit ihm zu treffen, wenn du da gewesen wärst, also richtig da.

Und – Anna und Jayden sind eine Bereicherung.

Ich werde sie dir vorstellen.

Du wirst Anna sehr mögen – wie ich schon einmal gesagt habe, sie ist die Art von Mensch, die die Welt ein bisschen besser macht.

Du bist auch ein Mensch dieser Sorte, Jonny.

Weißt du noch, wie du einmal nach der Schule mit zu mir gekommen bist? Auf der Straße, an einen der Brückenpfeiler über dem Bach angelehnt, saß ein obdachloser Mann. Er wirkte schmutzig und er hat uns nach Geld gebeten.

Ich weiß ja nie bei Menschen, die sich auf die Straße setzen und betteln, denn es gibt genügende, die Betrüger sind und nur auf Geld aus sind. Und auch wenn sie tatsächlich arm sind, würden einige das Geld für Alkohol, Drogen oder Zigaretten ausgeben.

Du wusstest all dies.

Aber als der Mann dir in die Augen blickte – und er hatte blutunterlaufene, rot geräderte Augen von einer blassgrünen Färbung, wenn ich mich recht erinnere; Augen, die von viel Leid berichteten, wie du mir später sagtest – da hast du ihm freundlich zugenickt und gesagt: „Kommen Sie mit, ich kaufe Ihnen etwas zu essen."

Und dann bist du mit dem Mann zu einem Bäcker gelaufen und hast ihm zwei belegte Brote gekauft.

Ich erinnere mich noch genau an den Hunger, mit dem er das erste verschlungen hat, und ich erinnere mich ebenso klar an die Freudentränen, die in seinen Augen standen.

„Danke", hat er gesagt, immer und immer wieder.

Ich habe gelächelt und ihm mit den Worten „kaufen sie sich danach noch eins" zwei Euro in die Hand gedrückt.

Ich weiß nicht, ob er es wirklich getan hat oder ob er sich mit dem Geld stattdessen Zigaretten oder Alkohol gekauft hat.

Aber ich schätze, ich habe ihm in dem Moment ein wenig vertraut, und zwar weil ich dir vertraut habe. Weil ich dir vertraue.

Erinnerst du dich noch an das eine Mal, als du mir die Augen verbunden hast, mir gesagt hast, ich solle dir folgen und mich dann mit leiser Stimme gebeten hast, dir zu vertrauen?

Da hatte ich die Augenbinde noch nicht auf, weil ich mich davor dagegen gesträubt hatte, und in diesem Moment habe ich mich zu dir umgedreht, dich sanft angesehen.

„Ich vertraue dir", habe ich gesagt, ganz deutlich.

Da hast du gelächelt und deine Augen haben geleuchtet. Dann hast du gesagt, dass du mir auch vertraust, und dann haben wir uns geküsst.

Und als wir uns voneinander lösten, habe ich mich wieder umgedreht und du hast mir ganz vorsichtig die Augen verbunden.

Weißt du auch noch, wo du mich hingebracht hast an diesem Tag?

Ins Baumhaus.

Wenn ich meine Augen schließen, kann ich noch genau sehen, wie ich es vor mir erblickte, als du mir die Augenbinde abnahmst: mit dem teilweise bemalten Holz und der Strickleiter, die vom Eingang herab direkt vor unsere Füße fiel.

„Komm", hast du gesagt und meine Hand genommen.

Oben waren Decken und Kissen; ein Laptop, ganz viele Filme. Als du deine Tasche öffnetest, hattest du viele Dosen dabei mit Essen: Frikadellen, Rohkost, Salzstangen, Sandwiches und Schokoladenmuffins und Cookies und Chips.

„Wow", war wohl so ziemlich das Einzige, was ich für volle fünf Minuten herausbrachte. Was bei dir dazu führte, dass du heftig lachen musstest.

Schließlich habe ich dich am Kragen gepackt und zu mir runtergezogen und auf die Lippen geküsst.

„Ich vertraue dir", habe ich geflüstert. „Weil ich dich liebe."

Jetzt vertraue ich dir auch.

Ich vertraue darauf, dass du aus deinem Koma aufwachst. Deine Augen aufschlägst. Zu mir zurückkehrst.

Ich vertraue dir mein Leben an, denn ohne dich war es sowieso so gut wie wertlos, ohne dich hat es sich kaum wie Leben angefühlt.

Eigentlich ist das egal, denn es hat schon immer dir gehört, seit dem Moment auf der Brücke über der Autobahn, als wir uns zum ersten Mal vollständig vertrauten.

Vertrauen.

Etwas, das sich bei uns, bei dir, immer wie selbstverständlich anfühlte.

Vielleicht, weil ich unterbewusst schon immer wusste, was ich erst jetzt verstehe:

Ich gehöre dir. Mein Herz gehört dir, mein Körper, meine Lippen, mein Verstand, meine Seele.

Jonathan, ich gehöre dir.

Und ich weiß, dass du mir gehörst.

Weil wir zwar vergänglich sind, aber weil es trotzdem reicht.

Also wach auf. Ich will dich endlich wieder küssen.


Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt