Achter Brief: Fliegen

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Ohne dich

kann ich nicht mehr

fliegen

Jonathan,

weißt du, was ich gefunden habe, als ich unter meinem Bett nach einem Lernzettel für Geschichte gesucht habe, der mir runtergefallen ist?

Das Foto, das wir unten am See gemacht haben. Das, auf dem du einen Arm um mich gelegt hast, ich rot wie eine Tomate bin und wir beide wie verrückt lächeln.

Ich kann mich noch so gut an diesen Tag erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.

Wir sind nach der Schule mit den Fahrrädern zum See gefahren. Ich weiß noch, dass ich morgens totale Panik hatte, all das Zeug nicht in meine Tasche zu bekommen – aber wie du ja weißt, hat das irgendwie funktioniert.

Meine Bremsen haben die ganze Zeit gequietscht und du hast mich deswegen ausgelacht.

Wir haben unsere Fahrräder zusammen abgeschlossen, und dann hast du meine Tasche genommen. „Gentleman", habe ich in einem neckenden Tonfall gesagt, und du hast eine Verbeugung angedeutet. Wir haben gelacht.

Du hast mich überredet, mit dir zur Plattform zu schwimmen, die sie in der Mitte des Sees aufgebaut haben. Hast meine Hand genommen und bist mit offenen Augen mit mir unter der Plattform durchgetaucht.

Ich werde dieses Bild nie vergessen: das grünblaue Wasser, die Algen, wie alles verschwamm, und ich dich trotzdem ganz klar vor Augen hatte.

Ich hab mich zwar verschluckt und mir danach die Seele ausgehustet, aber das war es wert.

Und du hast mir sogar eine der Erdbeeren angeboten, die du dabei hattest, obwohl du Erdbeeren – und Essen generell – vergöttertest. Natürlich habe ich angenommen, aber vor Aufregung habe ich kaum etwas geschmeckt. Bloß, weil du mich angesehen, ja, eigentlich beobachtet hast. Und weil sich dabei ein Lächeln auf deinem Gesicht ausgebreitet hat.

Also lächelte ich auch.

„Du hast da noch was", sagtest du mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen und berührtest mit dem Finger vorsichtig meine Mundwinkel. Natürlich hast du deine Hand danach nicht wieder zurück in deinen Schoß gelegt. Natürlich blieb sie an meiner Wange – wie hätte es auch anders sein sollen.

Du blicktest mich an. Und ich versank in deinem Blick. Vollkommen. In dem Moment wurde mir klar, dass ich in dich verliebt war, hoffnungslos und absolut hundertprozentig.

Als du deinen Mund schließlich auf meinen legtest, schmecktest du nach Erdbeeren und nach dem unbändigen Glück und dem Freiheitsgefühl, das sich unaufhaltsam wie ein Lauffeuer in mir ausbreitete.

Du hast mich geküsst, dort, am See, und als wir uns lösten, atmeten wir heftig und unsere Nasen berührten sich noch immer.

„Wir müssen diesen Moment festhalten", hast du in einem amüsierten, leicht befehlshaberischen Tonfall gesagt, dein Handy aus der Tasche gekramt und für das Foto den Arm um mich gelegt. Dort, wo du meine Haut berührtest, brannte sie.

Und dann hast du dein Handy wieder weggepackt. Und mich nochmal geküsst. Und nochmal und nochmal und nochmal.

Solange, bis unsere Lippen geschwollen waren und ich heftig nach Luft schnappte.

„Evie?", hast du schließlich geflüstert, und deine Stimme war rau.

„Ja?", war meine Antwort, und ich weiß noch, wie erschrocken ich war, als ich hörte, dass auch ich tiefer und irgendwie anders klang als sonst.

Da hast du dich noch ein kleines Stück mehr von mir gelöst, damit du mich ansehen konntest.

Dein Blick war intensiv und dunkel und taxierte mich vollkommen.

„Ich bin in dich verliebt", sagtest du.

Und als ich die Augen aufriss und ungläubig etwas sagen wollte, da legtest du einen Finger auf meine Lippen.

„Ich weiß", flüstertest du. „Liebe ist gefährlich und diese Welt ist grausam und wir sind beide kaputt." Da war nichts als Ehrlichkeit in deiner Stimme, und wir wussten beide, dass du Recht hattest.

„Aber ich", zum ersten Mal bemerkte ich etwas wie Unsicherheit in deinen Worten, „fühle mich in deiner Gegenwart...", nach dem geeigneten Ausdruck suchend sahst du mich mit einem Anflug von Verzweiflung in den Augen an, „besser."

Du räuspertest dich, und mein Herz schlug laut in meiner Brust.

„Wenn du bei mir bist, geht es mir gut. Dann ist endlich alles okay. Und ich weiß nicht, ob ich von diesem Gefühl jemals wieder loskomme", fuhrst du fort, „also ja, ich habe mich in dich verliebt. Bis über beide Ohren."

Jetzt grinstest du wieder, und als ich immer noch mit offenem Mund dasaß und dich anstarrte, da musstest du schmunzeln, nahmst mein Gesicht in beide Hände und küsstest mich wieder.

Und da habe ich es endlich verstanden.

Du warst in mich verliebt, und ich in dich, und es war okay. Es war okay, wenn wir trotz all dem Leid, das es auf dieser Welt gab, glücklich waren.

Und wir waren glücklich. Gott, und wie.

Manchmal wünsche ich mir diesen Sommer zurück.

Nicht, weil ich nur von dieser Zeit ehrlich und hundertprozentig und ohne zu zögern sagen kann, dass ich sorglos und frei und froh war.

Sondern weil du es auch warst.

Weil wir uns für diese wenigen gestohlenen Momente vor der Schwerkraft verstecken konnten und mit unseren zerfetzten, sternentrunkenen Flügeln in die Weltallabgrundssternsgefälle unserer eigenen Herzen fliegen konnten – und sich dieser sonst so einsame, leere, finstere Ort auf einmal wie ein Paradies anfühlte.

Mit dir, Jonathan.

Und wenn ich einen Wunsch hätte, der mir erfüllt werden würde, willst du wissen, was er wäre?

Noch einmal bei dir zu sein.

An diesem Ort, der nur uns gehörte. Wo wir glücklich waren.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt