Einundzwanzigster Brief: Nicht mehr

38 7 0
                                    


Weil ich nicht länger weiß –

Was da schläft tief in mir

Und was nicht mehr


Lieber Jonathan,

Anna ist gestern gestorben. Jayden hat sie sterben sehen, er war dabei, und ich habe mich auch von ihr verabschiedet, und es hat sich schrecklich angefühlt, und so unfair. Sie war doch noch so jung; wie kann jemand so junges schon solche Sachen verdienen?

Deswegen weigere ich mich, an einen Gott zu glauben. Denn wenn er so etwas passieren lässt, dann ist Gott grausam und böse und dann ist die bessere Alternative, dass es ihn nicht gibt.

Weil ich nicht mehr sehe, was der Sinn von all dem sein könnte. Wie ich jemals heilen sollte. Warum so etwas passiert, warum es mir passiert. Denn ich...

Jonny, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich fühle mich so eingeengt, fast wie in einem Gefängnis, in einem tiefen Loch, aus dem ich nicht mehr herauskommen kann.

Und gestern... ich glaube, Jayden ist gestern hereingefallen in dieses Loch.

Und so viel er mir bedeutet, ich kann nicht dort unten bleiben. Ich kann nicht. Es macht mich kaputt.

Ich weiß nicht wie, aber ich muss da raus. Ich muss weg davon, weg von dieser Dunkelheit.

Deswegen bin ich auch weggegangen. Ich bin mitten in der Nacht in einen Zug gestiegen und nach Frankfurt gefahren und jetzt sitze ich auf einer Parkbank, sehe mir die Hochhäuser an und schreibe Dir.

Bin ich ein schlechter Mensch dafür, dass ich geflohen bin? Ich habe ein schlechtes Gewissen, vor allem, wenn ich sehe, wie oft Jayden mich schon angerufen hat, aber Jonny, ich konnte nicht mehr atmen. Habe keine Luft mehr bekommen in dieser Dunkelheit, in diesem Schmerz. Ich musste weg von dem Schmerz. Vielleicht gibt es ja doch eine Grenze; wie viel Schmerz ein Mensch ertragen kann. Und ich habe meine erreicht.

Denn ich weiß nicht mehr, wohin ich ihn füllen sollte, den Schmerz, denn mein ganzer Körper ist voll davon. Ich berste.

Deshalb... muss ich etwas davon loswerden. Irgendwie. Deshalb bin ich weg. Aber es tut mir trotzdem leid.

Vor allem für Jayden. Er hat das nicht verdient. Und... wir haben uns wieder geküsst, Jonny. Und es hat sich so gut angefühlt. Lebendig. Vielleicht auch irgendwie, als würde alles wieder gut werden, obwohl so viel Schlechtes passiert. Ein bisschen wie Hoffnung.

Aber jetzt ist sie tot, und da ist kein Platz mehr für Hoffnung in Jayden, und kein Platz mehr für Hoffnung in mir.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt