Epilog: Sommerhimmelblau

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Es regnet.

Die Tropfen treffen auf meine Hose, meine Chucks, mein Spaghetti-Top und auf meine Arme, wo sie auf meiner gebräunten Haut explodieren. Das wenige Licht, das durch die dichte Wolkendecke dringt, spiegelt sich darin und ich sehe meine blauen Augen in jeder einzelnen von ihnen, eine vergängliche Aufnahme des ebenso vergänglichen Moments.

Ich werde schon wieder nostalgisch.

Seufzend streiche ich mit der linken Hand über meine Arme und spüre die angenehme Kälte des Regens an meinen Fingern.

In mir erinnert sich etwas an einen anderen Tag im Regen, einen Tag vor langer Zeit, und bevor sich der Gedanke greifbar macht, drängt mein Unterbewusstsein ihn zurück, aber es reicht, um das braunhaarige Mädchen in meinem Kopf zu sehen.

Ich schüttelte resigniert den Kopf und starre auf die nassen Pflastersteine zu meinen Füßen, die dunkel sind vom Wasser. Warum habe ich auch keinen Regenschirm mitgenommen? Frustriert kicke ich einen Kieselstein über die Kante des Bürgersteigs.

Neben mir fährt ein Auto vorbei, das schwarze Metall glitzert vor Nässe. Einige Spritzer landen auf meinen Beinen, während das Gefährt durch eine der zahlreichen Pfützen rast, vermutlich schneller, als es erlaubt ist.

Ich sehe nach vorne. Alles ist verschwommen vom Regen, und ich muss die Augen zusammen kneifen, um etwas zu erkennen. Was auf dem Schild auf der anderen Straßenseite steht, sehe ich trotzdem nicht. Ich senke den Kopf und blicke auf den Boden. Der dunkelblaue Stoff der Chucks ist durchweicht und ich spüre die Nässe an meinen Füßen. Es ist ein unangenehmes Gefühl, und ich laufe schneller.

Ich verstehe das.

Die Worte kommen mir in den Sinn, als ich die kleine Buchhandlung rechts neben mir erblicke. Es ist geschlossen, und hinter der verstaubten Scheibe erkenne ich ein paar Gedichtbände. Goethe. Eichendorff. Rilke. Gryphius.

Meine Beine beschleunigen automatisch, ohne dass ich etwas dafür tun muss. Vor meinem inneren Auge sehe ich uns in einer Zeit, in der wir glücklich waren.

Ich liebe dich.

Der Junge in meinem Kopf lächelt. Es ist ein ehrliches Lachen und es erreicht mühelos seine blassblauen Augen, bringt sie zum Funkeln wie das Licht die Tropfen um mich herum zum Glänzen bringt.

Er erscheint vor mir wie ein Geist, seine Haare sind dunkler von dem Regen, der inzwischen stärker geworden ist, und in seinen Augen schimmert der Sommerhimmel eines vergangenen Jahres.

Ich starre ihn an, und für einen Moment halte ich ihn auch nur für eine Erinnerung, die mein verwirrtes Gehirn ausspuckt, alles nur, weil es regnet.

Regen.

Er durchtränkt sein schwarzes Haar, die Tropfen hängen an seinen Wimpern. Ich spüre, dass meine eigenen blonden Haare an meinem Kopf kleben. Sie nässen das Top und über meine Wange läuft ein Rinnsal.

„Evelyn."

In dem Moment, in dem ich seine Stimme höre, wird aus den Erinnerungen die Realität. Sie klingt noch genau wie damals: tief, rau, mit einem Hauch von Schmerz. Aber dieses Mal sagt er meinen Namen nicht mit einer Stimme, die bricht, sondern nur mit Verwunderung.

Er steht gekrümmt hat, seine Hände sind geöffnet, und er ist kräftiger geworden.

„Jayden", sage ich, und ich erkenne, dass auch in meiner Stimme Schmerz liegt, Schmerz darüber, was wir verloren haben, und was wir hätten sein können.

In seiner Hand ist ein Regenschirm. Er ist gelb. Gelb wie Butterblumen. Wie die Butterblumen auf der Wiese vor dem Hospiz.

Warum ist er so nass?

Er hebt den Kopf.

Ich sehe in seine Augen. Das blasse Blau. Sommerhimmel, gesprenkelt mit den Sternen eines kalten, wahren Weltalls.

Er kommt auf mich zu, sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Dann drückt er mich an die graue Hauswand und presst seine Lippen auf meine.

Es ist kein zarter, sanfter Kuss. Nein. Der Kuss schmeckt nach Leidenschaft, nach Verzweiflung, Verlangen und einer Sehnsucht, die davon zeugt, was er erlebt hat – überlebt hat. Wir sind so verschieden. Und wir wissen das. Vielleicht ist das der Grund für all das hier. Warum es so schwer war, warum wir nicht einfach glücklich sein konnten. Aber ist es das denn? Ist Glück einfach?

Während er mich küsst und ich meine Lippen synchron zu seinen bewege, spüre ich für einen kurzen Moment lang die Schwere dessen, was hätte sein können – dessen, was zwischen uns verloren gegangen ist.

Es fühlt sich beinahe an wie Heimkehr.

Er lässt von mir ab und einen Herzschlag später ist er verschwunden.

Auf dem Bürgersteig, zu meinen Füßen, liegt der Regenschirm. Gelb ist er. Wie die Butterblumen, die unter einem hellen Sommerhimmel wuchsen, während wir auf Leinwände gemalt und getanzt und gelacht haben.

Sommerhimmelblau. Wie seine Augen.

Ich fange an zu rennen.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt