Kapitel 6

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Tag 1

Bevor ich den Wald betrete, drehe ich mich noch einmal um. Mein Blick schweift über die kleine Stadt, die ich einst so sehr geliebt habe. Über das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Das Haus, indem Lexi wohnt. Die Schule. Der Spielplatz. Ganz hinten am anderen Ende der Stadt kann ich sogar Ketils Unternehmen erkennen.

„Auf Wiedersehen", flüstere ich, drehe mich um und beginne zu laufen. Immer tiefer in den Wald hinein.

Tag 2

Die erste Nacht ist überstanden. Mühsam versuche ich mein Zelt zurück in die Tasche zu stopfen. Ich schaue auf meine Karte, um zu sehen, in welche Richtung ich gehen sollte.

Nicht weit von meinem Schlafplatz entfernt befindet sich ein Fluss. Schnell strecke ich meine Hände in das kalte Wasser, um den Schmutz des vergangenen Tages abzuwaschen. Einige Meter weiter unten erkenne ich eine Brücke. Das heisst ich bin immer noch nahe an der Zivilisation. Und so laufe ich während Stunden durch den Wald, durch kleine Wege, über Wurzeln und Bäche begleitet von dem dauernden Zwitschern der Vögel. Die Natur ist so wunderschön.

Tag 3

„Amaliya!!! Lauf!"

Ich drehe mich um und blicke in die gläsernen Augen. Der Himmel spiegelt sich darin. Das grüne Fell auf seinem Kopf bewegt sich vom Wind. Wieder bin ich unfähig mich zu bewegen. Ich bin gefangen unter seinen Augen. Gefangen in endloser Faszination des Giganten.

„Amaliya!", höre ich meine Schwester rufen.

Es öffnet seinen Schnabel. Schon erwarte ich den stechenden Schmerz in meinen Ohren, doch es folgt das Zwitschern eines Vogels. Das Zwitschern kenne ich. Es ist das eines braunen Lebewesens mit Flügel und einem Schnabel. Es ist der Gesang eines Spatzes. Was? Wie ist das möglich? Wo bleibt der schrille ohrenbetäubende Schrei?

„Amaliya! Lauf!", höre ich meine Schwester wieder rufen. In dem Moment dreht sich der Gigant in die Richtung meiner Schwester.

„Nein!", ertönt nun meine eigene Stimme. Sein Blick richtet sich auf mich. Ich beginne zu laufen. Während dem Rennen blicke ich über meine Schulter. Es folgt mir. Schnell blicke ich auf meine Füsse. Es sieht aus als würde ich fliegen. Ich komme nicht vom Fleck.

„Amaliya!", ruft Lexi. Panik überfällt mich. Ich komme nicht vom Fleck. Hilfe! Ich komme nicht vom Fleck. Wieder Blicke ich nach hinten. Es ist nur wenige Meter von mir entfernt. Hilflos versuche ich weiter zu rennen. Ich beisse meine Zähne zusammen und versuche all meine Kraft in meine Beine zu bringen. Ich blicke nach hinten und sehe es nah bei mir. Zu nah. Es öffnet den Schnabel, um mich zu packen. Und dann ist alles schwarz.

Ich bin müde. Die Albträume der Nacht raubten mir den Schlaf.

Tag 10

Meine Essensvorräte sind schneller kleiner geworden, als ich erwartet habe. Ich muss weniger Essen.

Tag 28

Mein Magen knurrt. Das Feuer brennt schon. Jetzt brauche ich nur noch etwas zu Essen. Mit viel Glück fange ich vielleicht Fisch. Ich folge einem kleinen Wildpfad in die Richtung in der ich ein Gewässer vermute.

War da nicht gerade ein Rascheln? Ich bleibe stehen und lausche. Stille. Wahrscheinlich eine Maus oder ein Vogel. Ich gehe weiter. Nun höre ich es lauter. Ein Rascheln hinter mir. Wieder bleibe ich stehen und blicke in die Richtung aus der das Rascheln kommt. Das Rascheln wird immer lauter und kommt immer näher. Ein Blick über den grossen Strauch einige Meter von mir entfernt reicht, um mein Adrenalin in die Höhe zu schiessen. Ein Wildschwein rennt direkt auf mich zu. Ich renne los, so schnell ich kann. Alle paar Meter mache ich eine Kurve, weil mich sonst das riesige Schwein einholen würde. Irgendwie habe ich es geschafft wieder zu meinem Feuer zu kommen. Schnell packe ich einige Dinge und renne gleich wieder weiter. Dieses dumme Schwein folgt mir immer noch! Einige Meter von mir entfernt sehe ich einen Baum, auf den ich klettern kann. Schnell lasse ich meine Sachen fallen, um besser und schneller klettern zu können. Ich springe vom Boden ab und packe den nächst grösseren Ast. Mit aller Kraft ziehe ich mich hoch und versuche mit dem rechten Bein auf einen Vorsprung zu treten. Mein Fuss rutscht ab. Voller Panik klammere ich mich an einen anderen Ast und stemme mich mit dem linken Bein hoch, bis ich eine sichere Höhe erreicht habe.

Von oben schaue ich auf das Schwein herunter. Ihre Zitzen am Bauch sind stark ausgeprägt. Wahrscheinlich hat sie gerade Jungtiere bekommen. Noch einige Minuten zieht sie ihre Kreise unter meinem Baum und schnaubt wütend auf. Noch nie zuvor habe ich ein Wildschwein gesehen aber nach diesem Ereignis hätte ich auch gut verzichten können. Dann läuft sie gemütlich in die Richtung, aus der wir gekommen sind. So gemütlich als wäre nichts gewesen. Ich Atme tief durch. Ein stechender Schmerz durchzieht mein Bein. Langsam ziehe ich meine Hosen nach oben. Scheisse. Eine riesige Schramme zieht sich über mein Schienbein und Bluttropfen sickern in meine Socken. Vorsichtige klettere ich wieder vom Baum herunter. Ich humple zu den wenigen Sachen, die ich mitnehmen konnte. Die Zeltplane und meine Regenjacke. Ich entferne die Kapuze von meiner Regenjacke und binde sie fest um mein Bein. Ein Schrei entringt meiner trockenen Kehle. Zögernd schaue ich in die Richtung, in der das Wildschwein verschwunden ist. Nein, ein zweites Mal würde ich mich nicht retten können.

Tag 50

Ich lief durch grosses Dickicht, über Berge, Felsen und durch Flüsse. Hin und wieder treffe ich auf ein Haus oder ein Dorf, wo ich mit etwas Glück eine Nacht in einem richtigen Bett geniessen kann. Doch die Einwohner fragen zu viel. Sie wollen immer zu viel über mein Leben wissen und warum ich so lange durch die Wälder irre. Deshalb bleibe ich oft nur eine Nacht und verschwinde schon bei Sonnenaufgang wieder. Ich habe begonnen mit der Natur zu leben. Ich erkenne, wann Regen das Land durchnässen wird. Ich lernte den abgetretenen Pfaden der Tiere zu folgen, um an Wasser zu gelangen. Meine Ernährung besteht aus Beeren, Kräutern und Fisch. Es ist nicht viel, was ich an einem Tag essen kann und meine Rippen zeichnen sich stark auf meiner Haut ab. Meine Beine sind vernarbt von den vielen Ästen und Dornen, die meine Haut immer wieder aufs Neue aufkratzen. Doch keine Sekunde habe ich daran gedacht zurück zu gehen. Nicht zu Lexi. Und auch nicht zu Ketil.

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt