Kapitel 9

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Tag 105

„Igitt! Was ist das?" Der würzige Geschmack des Tees lässt mich mein Gesicht verziehen.

„Das sind echte Bio-Kräuter, Amaliya! Ökologischer geht's nicht.", antwortet Owen lachend.

Der zweite Schluck ist nicht mehr ganz so schlimm. Wieso vertraust du ihm überhaupt, er könnte irgendetwas in dein Trinken oder Essen mischen. Ich stelle die Tasse vor mir auf den Tisch. Nach beinahe fünf Tagen qualvollem Fieber, kann ich endlich wieder mehr als zehn Minuten am Stück wach bleiben.

„Du solltest den Tee trinken, solange er noch heiss ist." Fürsorglich blickt er zu mir, während er in seiner Bewegung inne hält. Seit Stunden schnitzt er an einer Holzfigur herum.

Wenn er dir etwas antun wollte, dann hätte er das schon lange getan. Schliesslich hat er dich vor dem sicheren Tod gerettet.

Neben dem Zimmer, in dem ich aufgewacht bin, befindet sich noch eine Küche und etwas Ähnliches wie ein Wohnzimmer. Die Küche ist einfach eingerichtet mit einigen Schränken, in denen sich wenig Besteck und Geschirr befindet. Der ‚Kochherd' besteht aus einer Feuerstelle, über der man in einem Topf kochen kann. Das verbrannte Holz glüht noch immer von heute morgen und verbreitet einen leicht rauchigen Geruch im Raum. Ein kleiner Tisch und zwei Stühle stehen unweit entfernt. Das Wohnzimmer ist lediglich ein abgewetztes Sofa und ein zusammengebasteltes Büchergestell, wie das aus dem Schlafzimmer. In der Mitte des Raumes wurde eine Bodenluke eingebaut. Darunter befindet sich ein kleines Vorratskämmerchen. Draussen neben der Haustüre wird Holz aus dem Wald gelagert Owen hatte mir erklärt, dass er schon früh im Herbst Holz bearbeiten muss, um im Winter warm zu haben. Einige Meter vom Haus entfernt hat er in einem Bach eine Art Brunnen erbaut. Mit einer Seilwinde wird ein Eimer mit Wasser gefüllt. Ein anderes Seil ermöglicht den Eimer an das Ufer zu ziehen, ohne selber nass zu werden.

„Darf ich dich etwas fragen?", sage ich nach längerem Schweigen.

„Nur zu."

„Als ich das erste Mal aufgewacht bin, hattest du gesagt, du hättest das Haus mit deiner Frau gebaut.", murmle ich.

„Das war soeben keine Frage." Ich schaue in seine Augen und erkenne plötzlich etwas wie Trauer.

„Wo ist sie?" Zurückhaltend verfolge ich seine Gesichtszüge. Er sieht niedergeschlagen aus.

„Sie ist nicht mehr hier." Mit diesen Worten dreht er sich um und geht nach draussen. Mist! Vielleicht hätte ich nicht so direkt fragen sollen.

Einige Stunden später kommt er zurück. Er sieht müde aus. Mittlerweile habe ich meine restlichen Dinge gepackt. Ich habe beschlossen am nächsten Tag weiterzugehen.

„Hallo", sagt er leise, ohne seine Lippen zu bewegen. Verdutzt sieht er meine zur Abreise bereiten Utensilien.

„Willst du schon gehen?"

„Ja, ich habe dir doch schon genug Umstände bereitet."

„Nein. Du solltest noch etwas bleiben und dich erholen. Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen. Du kannst hier bleiben, bis zu wieder völlig gesund bist."

Er hat recht. Die Grippe hat an meinen letzten Kräften gezerrt. Vielleicht sollte ich wirklich noch etwas bleiben.

„Okay. Wenn es dir nichts ausmacht... Danke Owen."

Tag 107

„Essen ist fertig!" Vorsichtig schöpfe ich die Suppe in kleine Schalen. Ich spüre einen stechenden Schmerz auf meinen Händen. Scheisse ist das heiss! Von einer Hand zur anderen jonglierend trage ich die Schale bis zum Esstisch. Ich höre wie Owen das Holzhacken unterbricht und das Beil auf den Boden stellt.

„Ich habe einen Bärenhunger!" Gierig beginnt er die Suppe zu essen.

„Amaliya", sagt er zwischen zwei Armbewegungen, die das Essen zu seinen Mund befördern, „Ich möchte mich für meine überaus dumme Reaktion von vorgestern entschuldigen. Und ich möchte mich jetzt auf keinen Fall rechtfertigen oder eine doofe Ausrede finden aber ich spreche nicht gerne darüber. Besser gesagt habe ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen." Ich habe den Zwischenfall mit meiner Frage über seine Frau schon beinahe vergessen und einfach akzeptiert, dass er nicht darüber sprechen möchte. Umsomehr verwundere ich mich über seine plötzliche Entschuldigung.

„Schon okay. Wenn du nicht darüber sprechen möchtest, dann lass es sein."

„Nein, das ist es ja eben. Eigentlich möchte ich sehr gerne darüber sprechen." Er legt seinen Löffel beiseite.

„Ach so. Also ähm... Ich höre dir gerne zu." Nach über hundert Tagen ohne wirkliche soziale Kontakte merke ich, dass ich ganz schön aus der Übung gekommen bin.

„Ich habe sie in einem Café kennengelernt, in dem ich eine Zeit lang gearbeitet hatte. Sie hiess übrigens Corelina, wobei sie alle Cor nannten und sie sich auch so vorstellte. Cor ist lateinisch und bedeutet Herz. Weisst du, dass das Herz ein faszinierendes, ja sogar grossartiges Organ ist? Ein Leben lang pumpt es unser Plasma und winzige Blutzellen, Enzyme, Proteine und noch viele andere Teilchen durch unseren Körper. Tag und Nacht. Es steuert so viel im Organismus. Ich erzähle dir das, weil ich Cor so einfach beschreiben kann. Ihr ganzes Leben lang, oder zumindest seit ich sie kannte, trieb sie alle um sich herum voran. Jeden Tag aufs Neue überflutete sie ihr Umfeld mit einer Energie, die du dir nicht vorstellen kannst. Sie war so wunderbar.

Tagein, tagaus kam sie in das Café, bestellte einen Latte Macchiato mit extra viel Schaum zum Mitnehmen und schenkte mir ihr Lächeln. Sie fragte immer, ob ich gut in den Tag gestartet war, bezahlte und verliess mit ihrer so wundervollen und einzigartigen Ausstrahlung das kleine Lokal. Es dauerte Wochen, bis ich mich schliesslich getraute, sie zu fragen, ob sie mit mir ausgehen möchte. Zu meiner überaus grossen Freude hatte sie zugestimmt. Und so begann das beste und schönste Abenteuer meines Lebens."

In seinen Augen hat sich ein kleiner Rand von Tränen gebildet. Auch ich kämpfe mit den Tränen. Seine Worte verlassen seinen Mund mit so einer Leichtigkeit und gleichzeitig mit so viel Liebe.

„Wir teilten viele Gemeinsamkeiten und so auch unser Weltbild. Stundenlang hatten wir davon geträumt nicht in der überbevölkerten Welt leben zu müssen. Nicht ein Teil dieser grausamen Wesen zu sein, die sich Menschen nennen und sich selber in den Untergang ihrer Spezies treiben. Also packten wir unsere Rucksäcke und verschwanden von der Bildfläche. Sieh dich um, das ist daraus geworden. Das hier war unsere Zukunft. Unser Rest des Lebens. Fernab von der Zivilisation. Wir hatten uns, ein paar Bücher und die Natur. Nächtelang verbrachten wir unter freiem Himmel und zählten Sternschnuppen. Hier, wo der Himmel nicht von den Städten beleuchtet wird." Er hält inne und schluckt leer.

„Du musst das nicht erzählen, Owen." Mitfühlend lege ich meine Hand auf seine. Zu sehr kämpft er um seine Selbstbeherrschung.

„Nein, ist schon okay. Entschuldigung. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass ihr Bauch immer grösser und runder wurde. Als ich sie dann einmal direkt darauf angesprochen hatte, antwortete sie nur mit ihrem wundervollen Lächeln. Bald würde unser kleiner Junior durch das Haus rennen. Natürlich hiess das für uns, dass wir wieder einmal zurückkehren mussten, denn er oder sie bräuchte Bildung und sollte wie jedes andere Kind aufwachsen können. Doch das lag noch in weiter Ferne. Die Wochen verstrichen und Cor's Bauch wachste und wachste. Nie war ich so glücklich, wie damals. Als dann in jener Nacht die Wehen ausbrachen, war ich wahrscheinlich nervöser als Cor selber. Nicht in meinen schlimmsten Träumen hatte ich mir ausgemalt, dass etwas schief gehen könnte. Doch das tat es. Cor verlor viel zu viel Blut. Ich bin kein Arzt, ich wusste nicht, was ich tun sollte." Voller Verzweiflung hält er seine Hände vor sein Gesicht und weint. All die Trauer, die er wahrscheinlich zu verdrängen versuchte, bricht aus ihm heraus.

„Sie haben es nicht überlebt.", presst er zwischen seinen Lippen heraus, nachdem er einmal kurz einatmete.

Langsam gehe ich zu ihm und nehme ihn in die Arme. Noch bis tief in die Nacht erzählt er mir von seinen zu Beginn schönsten und höchsten Gefühlen, über die einzigartige Liebe, die er für Cor hegt, bis zu der Hilflosigkeit, die sein glückliches Leben zerstörte.

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt