Kapitel 8

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Tag 100

100 Tage sind vergangen seit ich mein zu Hause verlassen habe. 2'400 Stunden sind vergangen, seit ich zum letzten Mal unter warmem Wasser geduscht habe. 144'000 Minuten seit ich zum letzten Mal eine richtige, warme Mahlzeit gegessen habe. Und 8'640'000 Mal hat der Sekundenzeiger einen kleinen Sprung gemacht.

Die Nacht war kalt. Kälter als die Nächte zuvor. Ich wurde von Albträumen heimgesucht, Schlimmere als jene zuvor. Meine Haut glüht und doch fühlt es sich an, als würde ich erfrieren. Meine Glieder schmerzen bei jeder Bewegung. Mit kleinen Schritten stolpere ich immer wieder über Wurzeln und Äste. Plötzlich beginnt sich alles zu drehen. Die Bäume beginnen sich zu bewegen. Ihre Äste schlagen aus als wären es Arme. Arme von Riesen. Arme von Giganten. Ich blicke auf den Boden, wo das Wasser des Regens eine Pfütze gebildet hatte. Sie glänzt. Wie die Augen des Giganten. Ich nehme einen tiefen Atemzug und dann ist alles schwarz.

Die Sonne wärmt mein Gesicht. Für einen kurzen Moment schliesse ich meine Augen und geniesse die Ruhe. Doch meine Umgebung ist viel zu schön um nicht angeschaut zu werden. Ich liege auf einer Blumenwiese, der Boden so weich wie samt. Jede Blume schöner als die andere. Das grüne saftige Gras betont die Farben der Blumen noch viel mehr. Vorsichtig knicke ich einen Stiel einer wundervollen blauen Blume ab. Ich betrachte sie und stecke sie in meine gewellten Haare. Sie sind samtig weich und sauber. Ich blicke an mir herunter. Ich trage ein weisses Kleid, das sich im Wind bewegt. Schmetterlinge schweben durch die Luft und lassen sich immer wieder auf Blumen nieder. Wie sich das wohl anfühlt? Wie aus dem Nichts kommt ein Hund auf mich zu gerannt. Er wedelt wie wild mit dem Schwanz und bellt vor Freude. Er stolpert stürmisch über meine Beine und leckt über meine Stirn. Warte was? Das war kein Hund.

Langsam öffne ich meine Augen. Über mir ist jedoch nicht der klare blaue Himmel, sondern eine braune Decke. Die weiche farbige Blumenwiese stellt sich als Bett aus und jemand kühlt meine Stirn mit einem Tuch. Wo bin ich?

„Hallo. Hab keine Angst ich tue dir nichts." Verwirrt sehe ich den Mann neben mir an. Ich versuche aufzusitzen, doch dazu fehlt mir die Kraft.

„Wo bin ich? Wer sind Sie und was machen Sie mit mir?", frage ich verwirrt.

„Ich habe dich im Wald gefunden. Du lagst halb im Wasser und warst völlig unterkühlt. Also habe ich dich hierher genommen. Du hast dir eine schöne Grippe zugezogen." Er lehnt sich etwas nach hinten, nimmt ein Glas Wasser von einer kleinen Kommode und hält es mir hin. Zögernd nehme ich das Glas entgegen. Er hilft mir mich aufzurichten. Gierig lasse ich das Wasser meinen Rachen herunter rinnen.

„Danke.", sage ich leise, „ Wie lange bin ich schon hier?"

„Zwei Nächte." Er nimmt einen Wasserkrug und füllt das Glas wieder auf.

„Oh... Wie unfreundlich von mir, ich bin Owen." Er sieht mich mit einem freundlichen Lächeln an. Um seine grünen Augen bilden sich kleine Fältchen. Sein Gesicht ist oval, wobei seine Kieferknochen den unteren Teil des Gesichts breiter machen. Auf seiner Haut sind die Poren sichtbar und auf seinen Backen sind schwache rote Flecken erkennbar. Sie kommen wahrscheinlich von der Kälte und der dauernd frischen Luft. Seine Barthaare sind seit den letzten vier oder fünf Tagen wohl nicht mehr geschnitten worden. Owen ist meinem Alter nicht weit entfernt.

„Ich bin Amaliya." Meine Lider sind schon wieder schwer und ich lasse mich zurück auf das Kissen fallen. Nicht einschlafen. Mein an die Decke gerichteter Blick gleitet durch das kleine, einfach eingerichtete Zimmer. Neben dem Bett und der kleinen Kommode befindet sich nur noch ein Gestell in dem Raum. Als ich genauer hinschaue, erkenne ich, dass es wohl selber gebastelt wurde. Mit Schnüren werden alle Äste zusammengehalten. Darauf befinden sich einige Kerzen, ein Stapel Bücher und ein eingerahmtes Foto. Es ist jedoch zu weit weg, um es zu erkennen. Die Wände und die Decke bestehen aus dunklem Holz. 

„Wo bin ich hier?", frage ich Owen.

„Das ist das Haus meiner Frau und mir. Wir haben es vor vier Jahren selber gebaut. Es ist mitten im Wald. Ich bekomme selten Besuch von anderen Menschen."

Ich bin zu müde um zu bemerken, dass er den letzten Satz in der Ich-Form ausgesprochen hat. Meine Augen fallen zu. Irgendwo in weiter Distanz höre ich ihn sagen, dass ich nur schlafen solle. Doch ich bin schon auf dem Weg ins Land der Träume.

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt