Kapitel 13

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Tag 120

„Jetzt", flüstert Owen mir leise ins Ohr. Er ist so nah, dass ich seinen Atem spüre. Ich löse die Spannung in meinen Fingern. Das Seil spickt nach vorne und stösst den Pfeil von mir weg. Meine linke Hand beginnt zu brennen. Der Pfeil streifte meine Haut und schürfte sie auf. Ich verfolge den Pfeil. Er fliegt schnell. Und fliegt. Und fliegt. Dem Ziel vorbei. Und fliegt immer noch. Ich lasse den Bogen auf meine Knie senken und blicke zu Owen. Er fährt mit der Hand durch seine Haare und schaut nachdenklich auf das Schussziel. Vielleicht ist da auch etwas Hoffnungslosigkeit in seinem Blick.

Mit Pflanzen und kleinen Ästen bastelte er eine Schiessscheibe an einen breiten Baum.

„Also... ähm... naja... was soll ich sagen?", versucht er die richtigen Worte zu finden.

„Sag es ruhig, ich bin ein hoffnungsloser Fall." Mit gespielter Traurigkeit wende ich den Kopf ab.

„So würde ich das nicht sagen. Übung macht den Meister. Du wirst deine Treffsicherheit schon noch verbessern."

Die Fische sind uns allmählich verleidet. Also hat Owen beschlossen mir das Jagen beizubringen. Er schnitzte aus einem Ast einen Bogen, der perfekt in meiner Hand liegt. Er schliff das Holz weich und er schnitzte sogar meinen Namen ein.

Mittlerweile hat er mir den Bogen aus der Hand genommen, nimmt einen Pfeil, spannt ihn in den Bogen, schiesst und... trifft. Ist doch ganz einfach.

Grinsend blickt er auf mich herunter. Seine Augen leuchten vor stolz. Nach einer Weile, die mir endlos lang vorkommt, wendet er sich lachend von mir ab. Was war das denn?

Ich stehe auf und gehe in die andere Richtung, um Kräuter zu holen. Owen sagte, er wird ein vorzügliches Abendessen herzaubern. Dazu braucht er jedoch Kräuter. Schon nach wenigen Schritten pflücke ich geübt die grünen Blätter von den Stielen. Ein starker Duft dringt in meine Nase. Dieses Kraut kenne ich. Er erinnert mich an Mutters Garten.

Lexi und ich wuchsen in einem Haus mit einem wundervollen grossen Umschwung auf. Rosen zierten die Sträucher und lockten die schönsten Schmetterlinge an. Lexi und ich sagten immer, es seinen Schmetterlinge aus dem Feenland. Sie kommen um uns zu beobachten und um auf uns aufzupassen. Irgendwann würden dann die Feen kommen und uns mitnehmen. In ein Land ohne Sorgen, in ein Land, wo immer die Sonne scheint. Die Natur so bezaubernd, wie man sie noch nie gesehen hat. Die Vögel, die schöner singen, als alle Ziervögel auf Erde. In das Land der Freiheit, der Feen, Zauberer und Prinzessinnen. Doch die Feen blieben nur in unseren Träumen und Fantasien.

Wie jeder andere Organismus holte auch mich der Lauf der Zeit ein und ich musste in die Schule gehen. In meinen ersten Schuljahren lief ich Hand in Hand mit Lexi über das Feld, an der alten Käserei vorbei, über den Dorfplatz bis zu unserer Schule. Doch irgendwann kam die Zeit, in der Lexi zu cool war, um mit ihrer kleinen Schwester zur Schule zu gehen. Ich hatte es nie verstanden. Sie veränderte sich. Lexi war beliebt und hatte viele Freunde und schon früh hatte sie ihren ersten Freund. Zu Hause testete sie ihre Grenzen aus. Viel zu oft stritt sie sich mit unseren Eltern, während ich auf der obersten Treppenstufe sass und lauschte. Ich verstand sie nicht mehr. Sie war doch mein grosses Vorbild.

Doch da waren so viele Dinge, die ich nicht verstand. Je älter man wird, desto weniger versteht man. In dieser Zeit, durch die jeder Mensch gehen muss, verloren Lexi und ich uns aus den Augen. Während ich noch an die Feen dachte, hatte sie nur noch Jungs, Boybands und Mode im Kopf. Natürlich kam auch die Zeit für mich, in der ich mich mit meinen Eltern stritt, jedoch deutlich weniger. Zu sehr genoss ich die Geborgenheit und Liebe, die ich zu Hause erhielt. Nach jedem Streit hatte ich ein solch schlechtes Gewissen, dass ich mich gleich wieder entschuldigte. Wie alle Jugendlichen ging ich auf Partys, trank Alkohol und ging meinen Weg. Was andere über mich dachten interessierte mich jedoch nicht. Ich finde, ich war einfach anders.

An meinem 18. Geburtstag schrieb mir Lexi einen Brief. Der schönste Brief, den ich jemals bekommen hatte. Sie schrieb, wie leid es ihr tat, dass wir uns nicht mehr gut verstanden. Und von da an bemühten wir uns wieder füreinander da zu sein. Sie wurde zu einer meiner wichtigsten Menschen.

Ich vermisse dich, Lexi.

„Amaliya? Was suchst du denn so lange?", reisst mich Owen aus meinen Gedanken. Meine Hände sind voller frischer Kräuter. Schnell drehe ich mich um und gehe zu Owen. Er hat ein grosses Feuer gemacht.

Wie er es versprochen hatte, ist das Abendessen köstlich.

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt