Kapitel 19

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Tag 127

„Bist du dir sicher, dass du da raus willst?" Seine Hand liegt auf meiner Schulter.

„Ja, Owen. Ich habe ganze zwei Tage direkt neben der Heimat der Giganten verloren. Ich muss da raus!"

„Von wo weisst du, dass es ihre Heimat ist? Amaliya, dieses Monster hat uns beinahe umgebracht! Wenn wir hier rausgehen, dann bestimmt nur in eine Richtung und das ist nach Hause."

Ja, Owen hat Recht. Wäre er nicht zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen, würde ich höchstwahrscheinlich nicht mehr denken, sprechen oder mich bewegen können. Nun ja, wer weiss, was nach dem Tod kommt. Ich fühle mich jedoch alles andere als tot. Owen hat nicht diese Verbindung zu diesen Wesen oder dieses Gefühl von Verlangen nach mehr über diese Giganten zu erfahren. Und zu seiner Frage weiss ich auch keine Antwort. Ich weiss nicht, ob es ihre Heimat ist, doch warum sollten ausgerechnet zwei von ihnen hier sein? Ich habe nur Vermutungen über diese Wesen. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung von ihnen...

„Dann gehen wir wohl nicht in die selbe Richtung." Mit diesen Worten drehe ich mich um und trete nach draussen in das Sonnenlicht. Die Lichtstrahlen fallen angenehm warm auf meine Haut. An vielen Stellen sind immer noch grosse Wunden zu sehen. Wenn ich an meinen Sturz zurück denke durchläuft mich ein Schauer. Owen hat mir gesagt, dass es grosses Glück war, dass ich überlebte. Bäume und Sträucher haben wohl meinen Fall abgebremst, anders kann auch ich mir das nicht erklären. An einigen Hautstellen sind kleine Stiche zu erkennen. Sie jucken oder brennen zum Glück nicht mehr. Was auch immer das für schreckliche Insekten waren, ich will ihnen nie wieder begegnen. Zu diesen Mücken hat sich Owen keines Wortes geäussert.

In diesem Moment erklingt ein mir so vertrautes Geräusch. Der ertfernte Schrei eines Giganten. Ich hebe meinen Blick in den Himmel und was ich da sehe, raubt mir beinahe den Atem. Die Äste der Bäume verdecken die Sicht, doch auf den einigen sichtbaren blauen Teilen des Himmels sind deutlich kleinen fliegende Punkte zu erkennen. Schnell renne ich ein kleines Stück den Hügel herunter. Trotz starken Schmerzen in meinem verletzten Bein erreiche ich eine Lichtung und die Sicht in den Himmel wird frei. Drei, vier, sechs, zehn... fünfzehn! Giganten von verschiedener Grösse ziehen Kreise im Himmel. Sie sind hoch oben und erscheinen wie Ameisen auf einer blauen Decke.

„Hast du komplett den Verstand verloren?", höre ich Owen rufen, ohne es wirklich wahrzunehmen.

Wie von alleine tragen mich meine Beine zu einem Baum. Ich habe wohl noch nie einen so dicken Baum gesehen, doch auch das nehme ich nicht wirklich wahr. Schnell greifen meine Hände nach einem Ast und ziehen mich hoch. Ich klettere immer höher. Näher zu den Giganten. Die kräftige Baumkrone öffnet sich dem Himmel. Ich setze mich auf einen Ast. Fasziniert verfolge ich das Kreisen der Tiere. Die Jungtiere sind deutlich unsicherer in den hohen Lüften. Sie jagen einander, doch immer wieder fliegen sie ineinander. Sie stürzen, doch können sich einige Sekunden später wieder fangen, um gleich wieder einen anderen Giganten zu attackieren. Der grösste der Giganten gibt laute Schreie von sich, wenn die kleinen ihn zu attackieren versuchen. Und dann sind da noch mittelgrosse Wesen zu sehen. Einige von ihnen gehen auf das Spiel der kleineren ein, während sich andere in sicherer Entfernung bewegen.

„Amaliya, verdammt komm da runter!" Owens verzweifelte Stimme überschlägt sich beinahe. Erst jetzt nehme ich seine Rufe wieder wahr. Ich schaue nach unten. Eindeutig ein Fehler. Die Entfernung zwischen mir und dem Boden ist erschreckend. Schnell klammere ich mich an einen Ast, der sicher zu sein scheint.

„Ich komme gleich zurück!", rufe ich laut zurück. Zu laut.

Wieder blicke ich in den Himmel. In das morgendliche klare Blau. Erschrocken blicke ich um mich herum. Alle Giganten sind auf einmal verschwunden. Besorgt schaue ich wieder zum Boden. Ich beuge mich noch weiter nach vorne, doch auch Owen ist verschwunden. Plötzlich verliere ich das Gleichgewicht und kippe nach vorne. Meine Füsse rutschen ab. Ehe ich mich versehe hängt man ganzer Körper an meiner schlotternden Hand. Meine Füsse versuchen vergebens Halt zu finden, währen ich mit der anderen Hand versuche einen anderen Ast zu fassen. Durch das ganze Fuchteln verliere ich allmählich meine Kraft. Ich schliesse meine Augen und bete um ein Wunder. Ich habe noch nie zuvor gebetet.

Ein sanfter Windstoss lässt meine Haare aufwirbeln. In dem Moment verliere ich die letzte Kraft in meinen Fingern. Bereit ein weiteres Mal in die Tiefe zu stürzen, spüre ich wie plötzlich etwas Kräftiges um meinen Bauch greift. Anstatt nach unten, fliege ich von der Erdanziehung davon. Langsam öffne ich meine Augen. Unter mir sehe ich nicht der harte Boden, der auf mich zukommt, sondern die Baumkronen. Von oben. Also fliege ich. Oder? Ich berühre das Etwas um meinen Bauch. Es fühlt sich an wie eine mit Buckeln übersäte Reptilienhaut. Klauen. Schnell blicke ich nach oben. Nach oben direkt in das Fell des Giganten. Seine Klauen umklammern meinen Körper. Die Baumkronen unter mir werden immer kleiner. Erst jetzt nehme ich das kräftige Schlagen der Flügel wahr. Mittlerweile haben wir die Höhe des Hügels erreicht und unter uns erstreckt sich die schönste Sicht, die ich jemals zu Auge bekommen habe. Er fliegt direkt auf den See zu, der mit seinen schönen Farben aus der Landschaft sticht. Nur einige Meter von der Wasseroberfläche entfernt segeln wir zusammen durch die Luft, ehe er wieder nach oben steigt, um über die Baumkronen zu fliegen. Er wird immer schneller. Ich breite meine Arme aus und lasse den Wind um meinen Körper gleiten. Ich fliege. Ein herzvolles Lachen entringt meiner Kehle.

Lieber Gott, warum hast du uns Menschen keine Flügel geschenkt?

Während Stunden zieht er seine Runden, während ich mich kaum mehr von meinem Lachen beruhigen kann. Es fühlt sich an, als wäre es ein Traum. Ein Traum in der Realität. Jeglicher Schmerz oder Sorgen sind verschwunden. Ich denke nicht einmal mehr an Owen. Ich denke nicht daran in welch grosser Gefahr er gerade sein könnte...

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt