Kapitel 15

50 2 5
                                    


Tag 121

Als ich am Morgen erwache fallen die ersten wenigen Sonnenstrahlen über das Land. Sie lassen den Himmel orange leuchten. Ich beschliesse ein morgendliches Bad im See zu nehmen und dann ein Frühstück für Owen und mich zu machen. Frühstück ist wohl ein zu übertriebener Ausdruck.  Wir hatten gestern beschlossen unser Lager an dem schönen See aufzubauen und am nächsten Tag weiter zu gehen. Der Sonnenuntergang war traumhaft schön! Bis spät abends loderten die Flammen unseres Feuers in die dunkle Nacht. Wir redeten lange über unsere Kindheit und unsere Berufe.

Ich erfuhr, dass Owen eine Schule für Hochbegabte besuchte. Er galt als Genie und viele erwarteten eine grosse Karriere von ihm. Auf den Wunsch seiner Eltern ging er auf die Universität und begann Jura zu studieren. Doch schon bald merkte er, dass diese Welt nicht für ihn geschaffen ist. Sehr zum Missfallen seiner Familie brach er das Studium ab und kämpfte sich mit Nebenjobs durchs Leben. Bis er Cor kennenlernte. Auch sie war begeistert von seiner Intelligenz. Von seiner treuen Seele und dem sozialen Verhalten, welches er immer wieder an den Tag führt. Nach dem Abbruch seines Studiums war die Beziehung zu seinen Eltern nicht mehr so gut wie vorher. Nur noch selten besuchte er sie. Sie waren nicht zufrieden mit ihm. Viel mehr hätten sie eine grosse Karriere ihres einzigen Sohnes bevorzugt. Sie schoben Cor die Schuld in die Schuhe, dass Owen nichts aus seinem Leben machte. Doch er distanzierte sich von ihnen und ging seinen eigenen Weg. Er machte das, was er für richtig hielt und das, was ihn glücklich machte.

Ich verstehe, wieso er mit Cor abgehauen ist. Um so übertriebener und bescheuerter scheint mir mein eigenes Verhalten. An diesem Abend versuchte ich mich zum ersten Mal in Ketils Lage zu versetzen. Es ist viel einfacher jemanden als verrückt abzustempeln, als sich selber einzugestehen, dass es mehr auf dieser Welt gibt, als das was die Menschheit erforscht hat. Und auch für mich war es einfacher aus meinem Leben zu verschwinden, als mich vor allen zu rechtfertigen und Fragen zu beantworten, für die ich keine Antwort wusste. Ich frage mich, wie sich mein Schicksal verändert hätte, wenn ich damals Lexi angerufen hätte. Wenn ich sie gebeten hätte, mich vom Bahnhof abzuholen. Wenn ich ihr all das Geschehene erzählt hätte und gegenüber Ketil geschwiegen hätte. Wären Ketil und ich noch immer ein glückliches Paar? Doch diese Gedanken bestehen aus zu vielen Möglichkeitsformen.


Ich befreie mich von meinen vielen Kleidern, die mich vor der nächtlichen Kälte schützen. Obwohl es am Tag noch immer ziemlich heiss ist, sind die Nächte schon deutlich kühler. In meinem T-Shirt und meinen Unterhosen gehe ich in Richtung des Sees. Ein merkwürdiger Geruch schwebt in der Luft. Als mich die Erinnerung überfällt, die mit diesem Geruch tief in mein Gehirn gebrannt wurde, suche ich nervös den Himmel ab. Doch ausser einigen Schleierwolken ist da nichts zu sehen.

Mein Puls beschleunigt sich, als ich ein Plätschern vernehme. Ich renne auf den kleinen Hügel und drücke mich flach auf den Boden. Und da ist es wieder. Am anderen Ende des Sees. Oder besser gesagt 3 davon. Gespannt zieht mich der Anblick dieser Wesen in eine tiefe Faszination, ja beinahe eine Trance. Es sind 2 Jungtiere und ein Ausgewachsenes, welches wahrscheinlich das Muttertier ist. Sie ist am Ufer und hält ihren Schnabel in das klare Wasser. Man erkennt die Muskeln an ihrem Hals, die jeden Schluck in ihr Inneres transportieren. Die beiden Kleinen schwimmen auf dem Wasser, nicht unweit von ihrer Mutter entfernt. Immer wieder breiten sie ihre Flügel aus und tauchen sie ins Wasser. Sie geben leise Gesänge von sich. Man könnte meinen sie lachen. Sie lassen das Wasser aufspritzen oder tauchen für einige Sekunden in den See.

Wie auf Kommando springen sie plötzlich in die Luft und fliegen hoch. Wasser spritzt aus ihren Federn auf ihre Mutter. Ihr entringt ein schnatterndes Krächzen. Und da erkenne ich das erste Mal, dass aus ihrem Schwanz Funken sprühen. Noch nie zuvor hatte ich das Glühen an der Spitze des Schwanzes erkennt, doch vielleicht hatte ich mich immer zu sehr auf dem Kopf fixiert. Der Schwanz der Jungtiere glüht nicht. Sie streckt ihren Kopf nach oben und versucht die Beiden wegzuscheuchen. Nach einiger Zeit landen sie wieder auf den Boden und lassen sich von dem ausgewachsenen Giganten liebevoll bepicken. Immer wieder geben sie Töne von sich, als würden sie kommunizieren. Nach einiger Zeit spannt die Mutter ihre Flügel aus und beginnt dicht über das Wasser zu fliegen. Ihre Jungen tun es ihr nach. Flink picken sie im Flug in den See und ziehen Fische heraus, welche sie mit einem Bissen schlucken. Etwa in der Mitte des Sees ändern sie ihre Flugrichtung nach oben und gleiten über den Hügel davon. Die Kleinen müssen sich anstrengen, um mit der Geschwindigkeit ihrer Mutter mithalten zu können.

Ich hole tief Luft. Meine Lungen brennen, als hätte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr geatmet. Erst jetzt bemerke ich, dass Owen sich neben mich gelegt hatte. Sein Gesichtsausdruck zeigt jedoch viel mehr etwas Verängstigtes. Doch Angst ist nicht das, was ich fühle. Im Gegenteil! Ich bin glücklich. Ich blicke zu dem Hügel hinter den die Giganten verschwanden.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was mich hinter diesen Felsen erwarten wird.

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt