Kapitel 7

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Tag 63

Atemlos ringe ich nach Luft. Ich bleibe stehen und blicke auf meinen zurückgelegten Weg. Warum musste Gott bloss Hügel erschaffen?! Meine Augen schweifen über die Landschaft, die sich vor mir ausbreitet. Von oben sieht alles noch tausend Mal schöner aus. Endloser Wald. Keine Städte oder Häuser. Die Farbe der Bäume leuchtet in allen verschiedenen Grüntönen. Die Blätter glänzen von der Feuchtigkeit, die der Tau in der Nacht hinterliess. Hier und da erkennt man einen kleinen See oder eine Lichtung. Ich setze mich auf einen Felsen. Mein Atem beruhigt sich wieder und auch mein Herz nimmt wieder die normale Geschwindigkeit an. Die Sonne lässt ihre Energie auf die Welt gleiten, lässt Pflanzen wachsen und bringt Licht in unser Leben. Für einen Moment schliesse ich meine Augen und fühle die Wärme auf meinem Gesicht. Vielleicht war es von Gott trotzdem nicht so doof Berge zu schaffen..

Zum ersten Mal seit langer Zeit lasse ich meine Gedanken zurück zu Ketil zu. Die Gedanken, die ich so lange verdrängt habe. All das, was mich so an mir selber zweifeln lässt. Und so wechseln wir einmal in die Vergangenheit und lassen das Geschehene Revue passieren.


„Musst du wirklich schon gehen?" Ketils Augen drohten mich zu durchstechen.

„Ja, es ist der Geburtstag meiner Schwester. Ich muss und will da hingehen.", antwortete ich eindringlich, denn die Küchenuhr an Ketils Wand zeigte schon eine viel zu späte Zeit an, um noch pünktlich bis zu meiner Schwester zu kommen. Ich drehte mich um und hielt die Türfalle schon in der Hand.

„Warte! Ich muss dir etwas sagen." Er packte meine andere Hand und hielt mich zurück.

„Ketil kann das nicht bis später warten?" Schon beinahe genervt schaute ich in seine wunderschönen Augen. Doch kaum hatte ich meine Frage ausgesprochen, kam er einen Schritt auf mich zu und presste seine Lippen auf meine. Meine Beine drohten ihre Kraft zu verlieren und zugleich fühlte ich mich als könnte ich fliegen. So viel Liebe und Glück durchströmte meine Blutgefässe und erfüllte meinen Körper.

„Ich wollte dir bloss sagen, dass ich dich liebe." Auch wenn er schon so viele Andeutungen gemacht hatte und auch wenn wir viel zu viel Zeit zusammen verbrachten, um nur Freunde zu sein, waren es die Worte, die ich zu diesem Zeitpunkt am wenigsten erwartet hatte. Es war einer der schönsten Momente in meinem Leben.

Ich legte all mein Vertrauen, all meine Energie und Motivation in seine Hände. Ich liess mein Leben von ihm abhängig werden. Er war so gut zu mir. Ketil las jeden Wunsch von meinen Augen ab. Er liess mein Leben so aufblühen, wie es kein anderer Mensch jemals getan hatte. Bis zu diesem Tag, der mein Leben veränderte. Der Tag, an dem ich in die gläsernen Augen eines Giganten blickte. Das Ereignis, das das Wort ‚Faszination' für mich eine andere Bedeutung erhalten liess. Der Tag, an dem eine Frau ihr Leben für mich verlor.

Nachdem ich mich damals von dem ersten Schock erholt hatte, rief ich Ketil an. Er fuhr gleich los, um mich vom Bahnhof abzuholen. Er benahm sich so fürsorglich und war für mich da. Er fragte mich nicht viel, sondern liess mich einfach reden. So kitschig es auch klingt, ich war einfach nur froh in seinen Armen zu liegen, wo ich mich sicher fühlte.

Er gab mir eine kleine Auszeit von der Arbeit, um mich zu erholen. Doch nach dem dritten Tag Herumsitzen beschloss ich ins Büro zu fahren.

„Sie habe seinen Atem auf ihrer Haut gespürt und es habe so gestunken. Dabei war es bestimmt nur ein Gestank, der in der Luft lag. Ihr seht ja in den Nachrichten, dass es nur ein Hirngespinst der Leute ist.", sagte Ketil gerade, als ich die Türe des Büros öffnete.

„Und dass das ausgerechnet Amaliya sagt, finde ich echt doof. Ich meine braucht sie Aufmerksamkeit oder so?", erkannte ich da auch die Stimme seiner Sekretärin.

„Keine Ahnung. Ich glaube ihr auf jeden Fall kein Wort und da bin ich unter Tausenden wohl nicht der Einzige. Die Naturwissenschaft hat schon so viele Dinge entdeckt und die Menschheit hätte schon lange drachenähnliche Wesen gefunden, wenn es denn überhaupt gäbe." Langsam trat ich in den Raum hinein. Neben der Sekretärin standen noch andere Mitarbeiter um Ketil herum.

„Amaliya! Was machst du denn hier?", fragte Ketil sofort, so als wäre nichts gewesen. Ich antwortete nicht. Von diesem Moment an glaubte ich mir selber nicht mehr.

Auch jetzt habe ich kaum gemerkt, wie eine Träne über meine Wange rollt. Er glaubt mir kein Wort. Wobei ich mir doch so sicher war, dass ich den Giganten gesehen habe. Ich habe versucht für alles eine plausible Erklärung zu finden. Doch es gibt keine Erklärung. Ich bin mir so sicher dieses Wesen gesehen zu haben. Aber niemand glaubte mir.

In den darauf folgenden Wochen war alles anders. Ketil distanzierte sich von mir. Nach etlichen Versuchen mit ihm zu reden, gab ich es auf. Ich redete mir ein, dass es dieses Ereignis nie gab. Auch wenn ich jede Nacht von dem Giganten träumte. Ich verlor mich selber im Stimmengewirr in meinem Kopf und begann verrückt zu werden.

Das Dorf der GigantenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt