10 - Marshmallows

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Zitternd standen wir in dem kleinen, altmodischen Kiosk und betrachteten das große Regal vor uns. Meine Haare waren immer noch nass und ich spürte die einzelnen Wassertropfen auf meiner Stirn. Das Karomuster des Bodens und die verstaubte, kleine Jukebox in der Ecke erzeugten eine schöne Stimmung und ich schaute zu den bunten LED Lichtern.

,,Ah, da sind sie ja!" ,rief Ellie erfreut und zog eine Verpackung aus dem Regal, dessen Name 'Rocky Mountain Marshmallows' lautete. Sie legte sie auf den Tresen, zusammen mit ihrem Kleingeld und es ertönte das Klingeln der Kasse. Der junge Mann musterte sie verwirrt und ich vergaß, dass Ellie ebenfalls komplett nass war, was mich leise kichern ließ.

Draußen öffnete sie die Verpackung und biss genüsslich in einen Marshmallow. ,,Hast du gesehen, wie der mich angestarrt hat? Als wäre ich ein Alien oder sowas." Sie lachte und übergab mir die Tüte. ,,Wohin gehen wir jetzt?" Ich dackelte ihr hinterher, durch eine lange Gasse, bis meine Augen das Grüne entdeckten. ,,Das hier ist mein Lieblingspark. Nachts scheint niemand hier zu sein, weshalb wir alleine sein sollten." Der verlorene Engel führte mich zu zwei Schaukeln, auf die wir uns fallen ließen.

,,Manchmal sitze ich Abends hier und genieße die liebliche Stille. Es erscheint mir wie ein Traum, obwohl es die Realität ist." ,sagte sie verloren. ,,Du bist nicht oft bei deiner Familie, oder?" ,,Nein. Ich gehe zur Schule und bleibe meistens für den Rest des Tages draußen, ab und zu auch Nachts. Das interessiert meine Mutter so gut wie nie. Sie beschäftigt sich seit dem Tod meines Vaters mit ihren Liebhabern, die sie jede Woche wechselt, was mir eigentlich egal ist, so lange ich mit ihnen nichts zu tun habe." ,antwortete sie kalt. ,,Das tut mir leid." ,flüsterte ich bedrückt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ist, keine richtige Familie zu besitzen.

,,Das geht schon. In einpaar Jahren, wenn ich endlich achtzehn bin, ziehe ich aus und baue mir ein eigenes Leben auf, ohne irgendwelche verlogenen Menschen, die keine Interesse an mir zeigen. Bis dahin sorge ich dafür, dass ich es durch die Schule schaffe, mit guten Noten und einer Zukunft, die sich lohnt." ,sagte sie stolz. Ihre Worte spiegelten eine enorme Willenskraft wieder und ich lächelte ihr zu.

,,Das wird dir bestimmt gelingen, daran glaube ich ganz fest!" ,,Danke. Was ist mit dir? Du verbringst sehr oft Zeit mit mir, das hat vorher noch nie jemand getan." Ich biss erneut in einen Marshmallow.

,,Naja, du bist meine Freundin und ich verbringe sehr gerne Zeit mit dir. Mit meinen Eltern klappt das leider nicht so gut, weil sie mich so, wie ihre perfekte und weibliche Tochter behandeln, obwohl ich das gar nicht bin."

,,Wissen die denn nicht, dass du transgender bist?" ,meinte Ellie besorgt und ich verneinte. ,,Ich schaffe es einfach nicht, ihnen davon zu erzählen, weil ich Angst vor ihrer Reaktion habe. Was mache ich, wenn sie mich nicht so akzeptieren, wie ich bin?" ,,Das sind deine Eltern, Alice. Wenn dich jemand so akzeptiert, wie du bist, dann sind es aufjedenfall sie. Natürlich kannst du nicht von ihnen erwarten, dass sie es auf die leichte Schulter nehmen, immerhin haben sie dich 15 Jahre lang für ihre 'Tochter' gehalten. Verdauen müssen sie es aber trotzdem und ich bin mir sicher, dass sie dich unterstützen werden, egal ob du ein Mädchen oder ein Junge bist, du bleibst weiterhin ein Teil von ihnen."

Ihre Worte ermutigten mich und ich glaubte daran, dass ich es schaffen könnte. Dass ich es ihnen sagen und sie mich nicht  verabscheuen würden.

Vielleicht hatte Ellie ja recht.

Song: All Over ~ Cruiser

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