12 - Gegen die Realität

540 49 0
                                    

Verdutzt starrte Mike sie an. Ihm klappte schon beinahe seine Kinnlade runter und zum ersten Mal in meinem leben betete ich. Ich betete zu Gott und all den anderen Wesen, die es angeblich gab und bat um Hoffnung.

Mikes Lachen ertönte. Er lachte unglaublich laut und warf sein Bier gegen die Holzbank. ,,Ihr denkt echt, es wäre so verdammt einfach, nicht wahr? Als würde ich mich jetzt ängstlich umdrehen und weglaufen, aber nein, NEIN, so läuft das nicht, oh nein." Er schnappte nach Ellie und warf sie zu Boden. Die Zeit verging so unglaublich schnell und ich begriff nicht, was geschah, als er ihr einen Tritt verpasste.

Ich dachte: Das war sie. Das war die Situation, vor der ich mich mein Leben lang gefürchtet hatte, denn ich war zu schwach, zu klein und zu ängstlich und sie? Sie würden mir die Personen nehmen, die ich mochte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Einer von seinen Freunden riss mich zu sich. ,,Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit." ,rief Mike verärgert und zog ein Taschenmesser aus seiner Jacke. Es war der Moment, in dem mir alles zu viel wurde. Der emotionale Zusammenbruch, wie man es mir später erklärte und ich schrie. So laut und kräftig, wie ich konnte. Ich schrie meine Wut und meine Trauer hinaus, während meine Tränen auf die Blätter unter mir tropften. Alles war stumm, wie in einem Film und es kam mir für einen Moment lang vor, wie ein Albtraum, ein schlechter Witz.

Doch es war die kalte Realität.

Sie waren alle schockiert, wussten nicht, wie sie reagieren sollten, als ich abrupt aufhörte. ,,Alice, lauf!" ,rief Ellie energisch und ich befreite mich aus dem Griff des Jungen, ehe ich ihr hinterherrannte. Ich rannte wahrhaftig um mein Leben, um Ellies Leben. In meinem Bauch machten sich die bekannten Stiche bemerkbar und ich spürte, wie meine Beine schmerzten, wie meine Kehle brannte und nach Luft ring, doch aufhören konnte ich nicht.

Und so rannten wir weiter, durch das Waldstück, über Äste, Blätter, vielleicht, ja, vielleicht rannten wir sogar gegen die Zeit, gegen die Realität, um ihr zur entkommen und um diesem Albtraum ein Ende zu setzen, bis Ellie plötzlich stolperte. Sie gab einen Schrei von sich und fiel gegen einen umgestürzten Baumstamm.

Ich blieb schockiert stehen, als sie sich nicht regte. ,,Ellie?"

Keine Reaktion.

Vorsichtig lief ich zu ihr und fiel auf die Knie. Das Blut an ihrem Kopf war frisch und zerklebte ihre roten Haare. ,,Oh Gott, nein." ,schluchzte ich verzweifelt. ,,Nein, nein, bitte nicht." Ich war am Ende. Die vielen Szenarien spielten sich in meinem Kopf ab und ich weinte. Ich weinte, weil ich einen Menschen getroffen hatte, der mich so akzeptierte, wie ich war. Ich weinte, weil er versucht hatte, mich zu beschützen. Vor all den grausamen Dingen, die mir Angst machten, Ellie hatte mich vor ihnen beschützt und ich war dabei, sie zu verlieren.

,,Alice." ,flüsterte sie plötzlich und ich starrte hoffnungsvoll ihr unschuldiges Gesicht an. ,,Du...du atmest!" ,,Hör mir jetzt gut zu, Alice." Ich rückte näher zu ihr. ,,Du nimmst jetzt das Handy aus meiner linken Hosentasche und rufst zuerst einen Krankenwangen und dann meine Eltern an, okay?" Entschlossen nickte ihr zu, fischte das Handy aus ihrer Tasche und wählte die entsprechende Nummer. Es dauerte einen Moment und ich spürte das Zittern meiner Hände, bis eine weibliche Stimme ertönte und ich erleichtert aufatmete.

Song: Frozen Pines ~ Lord Huron

DifferentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt