8 - Sowas wie Freundschaft

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Ich begegnete dem verlorenen Engel jeden Tag nach der Schule auf der alten Holzbank im Wald. Sie saß in ihrem viel zu großen Wintermantel dort und las die verschiedensten Bücher auf Englisch, Spanisch und sogar Japanisch. Ich leistete ihr Gesellschaft und erzählte ihr von meinem Tag, während Ellie mir ihre Lieblingszitate aus jenem Buch vorlas, bis ich nachhause ging und sie am nächsten Tag wieder dort traf.

Als wäre ich nie fort gewesen.

Ich log sie oft an, wenn ich ihr über die Aktivitäten in der Schule berichtete, doch Ellie schien dies nicht zu bemerken. Sie erzählte so gut wie gar nichts über sich und blieb so ein scheinbar unlösbares Rätsel.

Mir gingen viele Fragen durch den Kopf. Wer sie eigentlich war, woher sie kam und ob sie zuvor die kompletten Tage allein auf dieser Bank verbracht hatte. Sie war ein Jahr jünger als ich, doch auch unglaublich reif für ihr Alter, was mich verblüffte. Ihre Gedanken bestanden aus reiner Philosophie und die englische Literatur las sie unglaublich gerne.

Lächelnd saß ich neben ihr und lauschte der ruhigen Stimme.

,,Das hier gefällt mir auch sehr gut." ,Ellie machte eine kurze Pause, bevor sie die schwarzen, kleinen Sätze des William Shakespeares vorlas. ,,Humor ist eines der besten Kleidungstücke, die man in der Gesellschaft tragen kann." Sie wählte ihre Stimmenlage mit Bedacht.

,,Der Narr hält sich für weise, aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist."

Ich hörte das Blättern der verschiedenen Seiten ihrer Lektüre.

,,Zweifel sind Verräter, sie rauben uns, was wir gewinnen können, wenn wir nur einen Versuch wagen."

Der Wahrheitsgehalt der Worte machte mich traurig und ich spürte, wie die Träne einen warmen Schleier auf meiner Haut hinterließ.

,,Das Schicksal liegt nicht in der Hand des Zufalls, es liegt in deiner Hand, du sollst nicht darauf warten, du sollst es bezwingen."

Ich gab ein leises Schluchzen von mir und sie klappte ihre Lektüre sofort zu, als sie meinen Anblick bemerkte. ,,Alice, was hast du denn? Magst du seine Worte nicht?" ,fragte Ellie bestürzt und ich bekam Gewissensbisse. ,,Doch! Die sind wundervoll und du liest sie auch sehr schön vor, aber sie machen mich traurig, weil sie mich an meine Gefühle und an die schlimmen Dinge erinnern." ,versicherte ich ihr.

,,Von welchen schlimmen Dingen sprichst du?" Sofort schüttelte ich den Kopf. ,,Davon kann ich dir nicht erzählen. Du würdest mich hassen, weil ich nicht so bin, wie sie, weil ich es nicht sein kann und weil ich es früher ständig versucht habe, aber die vielen Beleidigungen mich zu Boden trieben. Es frisst mich auf, Ellie, es macht mich krank. Ich kann nichts dagegen tun, ich denke immer daran, aber dann wirft man mich einfach aus der Bahn, als wäre es mir nicht erlaubt, egal, wie viele Chancen ich vergeblich versuche zu sehen." Meine Stimme brach zusammen.

,,Du sollst wissen, dass egal, was es ist, ich dich immer so mögen werde, wie du bist. Egal ob Heute, Morgen, in einpaar Monaten oder gar Jahren, weil es keine Rolle spielt, wer du sein kannst, sondern wer du hier und jetzt bist." Sie schlang ihre Arme um meinen Körper und umarmte mich für einen kurzen Moment. Es tat gut, sehr sogar und ich war ihr dankbar.

,,Ich...bin transgender."

Irritiert zog Ellie ihre Augenbraue hoch.

,,Transgender? Heißt das, dass du kein Mädchen bist?"

Ich lachte leise. ,,Nein, ich bin ein Mädchen, aber ich fühle mich als Mädchen in meinem Körper nicht wohl. Dieses Geschlecht, es scheint einfach nicht zu mir zu passen." ,gab ich zu.

Von jetzt auf gleich lachte sie laut los. Ihre Reaktion verunsicherte mich, denn sie schien sich nicht mehr halten zu können. ,,Um Gottes Willen, Alice! Und deshalb zerbrichst du dir deinen Kopf? Warum? Warum stehst du nicht einfach dazu?" ,,Weil man mich dafür hasst. Meine ganzen Mitschüler, sie beleidigen und lauern mir auf, um mir dann im nächsten Moment einen Schlag zu verpassen! Selbst in der Vorschule verachtete man mich, was soll ich denn tun?" Verzweifelt fasste ich mir an meinen Kopf.

,,Sie verachten und schlagen dich?"

,,Ja."

,,Dann sind sie dumm, vollkommen verblödet. Vielleicht liegt es an der Erziehung, aber einen gesunden Menschenverstand besitzen sie sicherlich nicht und du solltest darüber lachen. Lache über das, was sie tun, präsentiere deinen Stolz und verstecke dich nicht vor dir selbst. Du bist toll, vergiss das nicht, verstanden?"

Sie wischte meine Tränen weg und warf mir ein erwärmendes Lächeln zu. ,,Du bist nett zu mir und akzeptierst mich so, wie ich bin. Wie nennt man das eigentlich?" ,fragte ich verblüffend.

,,Ist sowas wie Freundschaft, glaube ich."

Song: My New Friend ~ Carousel

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