Mein Finger schwebte über der Nummer meines Bruders. Er arbeitete hier in Atlanta. Zeit hatte er bestimmt keine, aber er würde seine Schwester nicht einfach stehen lassen. Nicht ohne Geld, Orientierung und in dem Zustand, in dem ich mich befand.
"Jane?", meldete er sich verwundert, "Was ist los? Ist was passiert?"
"Kannst du mich holen kommen?", wimmerte ich ungewollt verzweifelt.
"Mein Gott, Jane. Was ist passiert?", fragte er sofort aufgebracht.
"Nichts", krächzte ich, "Ich stehe hier. Irgendwo. Ohne Geld."
"Ich komme", antwortete er schneller als gedacht, "Schick mir deinen Standort."
Ich nickte mit zugeschnürter Kehle und weinte beinahe über so viel Selbstlosigkeit.
"Danke", presste ich hervor und legte auf. Ich sendete ihm meinen Standort und setzte mich auf den Bordstein. Hier fuhr kein Auto, ich sah keine Menschen. Hier war praktisch nichts, außer die Häuser und Höfe um mich herum.
"Danke für deine Ehrlichkeit", hallte meine Aussage in meinem Kopf nach. Wie hatte ich ihn so herzlos sitzen lassen können, nachdem er mir die Wahrheit gesagt hatte? Mich zwickten schon jetzt Gewissensbisse. Ich tippte schnell eine Nachricht an Leah und öffnete die ganzen ungelesenen nicht. Egal von wem. Dann schaltete ich mein Handy aus. Vermutlich dumm, falls Tommy mich nicht fand, aber ich brauchte jetzt vollkommene Ruhe. Abstand von allem.
Tommys Auto erkannte ich schon von weitem. Er war auch der Einzige, der in den letzten zehn Minuten hier auftauchte.
Ich schniefte noch einmal und stieg ein, nachdem mein Bruder hielt.
"Was machst du hier, Jane?", fragte er sofort entsetzt.
"Oh, Tommy", stöhnte ich, "Bitte frag nicht. Das ist eine viel zu lange Geschichte. Bitte."
"Willst du nach Hause?", fragte er.
"Nein", gab ich zurück und sah aus dem Fenster. Wir ließen das Viertel schnell hinter uns und bewegten uns Richtung Innenstadt.
"Kann ich bei dir schlafen?", fragte ich leise.
"Immer, Schwesterchen", bestätigte er und war wieder still. In so Momenten liebte ich ihn abgöttisch. Es gab auch andere, aber meistens hielten wir zusammen.
Mit Tommy verbrachte ich einen entspannten Abend. Wir sahen uns einen Film an, der im Fernsehen lief, aßen dazu Popcorn, bestellten Pizza und ich hörte mir den neusten Klatsch zu seinem Beziehungsstand an. Er verdiente gutes Geld, sah nicht schlecht aus und so lag ihm die Frauenwelt zu Füßen, nur leider immer die Falschen. Meistens wollten sie nichts weiter als teure Geschenke und guten Sex.
Am nächsten Tag, als Tommy arbeiten ging, begab ich mich an den Berg von wirren Gedanken, der sich in meinem Kopf angehäuft hatte und betrachtete alles mit ein wenig Abstand. Erst nach meinem Mittagessen, welches ich in der riesigen Küche in Tommys Loft zubereitete, traute ich mich mein Handy wieder anzuschalten. Fünfzigtausend Anrufe von Leah, zumindest gefühlt. SMS ohne Ende, doch keine Einzige von Luke.
Ich legte das Handy seufzend zur Seite und stützte mich auf der steinernen Arbeitsplatte ab. Wie sollte es nun weitergehen?
Meiner Arbeit nachgehen. So wie es jeder normale Mensch auch tat.
Ich rief Quinn an und regelte mit ihr, dass ich am Samstagabend und den gesamten Sonntag kam. Sie war ganz entspannt und sagte, ich solle mir keinen Stress machen. Das war leicht zu sagen, denn aktuell keinen Stress zu haben war unmöglich. Meine Gedanken liefen konstant auf Hochtouren und alles was ich tun konnte war Luke daraus zu verbannen, denn das was er mir erzählt hatte waren genau die Dinge, vor denen ich Angst gehabt hatte.
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Nicht nichts...
RomanceJane gibt sich mit dem zufrieden, was sie vor ihrer Nase hat. Job, Wohnung, beste Freundin und Eltern, die sie unterstützen. Es ist alles in Ordnung, bis sie mit ihren lebendig gewordenen Vorurteilen konfrontiert wird und gezwungen ist, Kompromisse...