Plötzlich erfasste mich eine wohlige Ruhe und breitete sich in meinem ganzen Körper aus, mein Herz schlug nicht mehr so heftig als würde es jeden Moment zerspringen und ich wurde auch nicht mehr von Heulkrämpfen geschüttelt. Ich fühlte mich warm und geborgen. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
Na endlich. Nur noch ein bisschen.
'Warum kannst du mich nicht wenigstens jetzt in Ruhe lassen?', dachte ich mir resigniert.
Ich war doch so müde.
Und wollte nicht mehr stark sein.
Wollte loslassen.
Warum noch länger kämpfen?
Ich hatte keinen Lichtblick mehr, keine Aussicht auf Besserung.
Alles war schwarz in dieser kalten, trostlosen Winternacht.
Doch auf einmal drängte sich, ganz schwach, eine Erinnerung in mein Bewusstsein. Es war als wäre sie sehr tief verborgen gewesen, als wäre sie verdrängt worden. Nun wurde sie immer klarer und schließlich schloss ich die Augen und gab der Erinnerung nach.
Kinderaugen die jemanden fixierten. Diesmal, ja, diesmal war ich nur Beobachter.
"Papa, bitte.", flehte das kleine Mädchen.
Er sah stur geradeaus.
"Bitte." Sie zerrte leicht an seinem Ärmel, das kleine Ding reichte dem Mann nicht mal bis zur Brust, sie musste also noch sehr jung sein. 7, vielleicht auch 8, oder jünger.
"Bitte.", flehte sie ihn wieder an, mit leiser Stimme.
Nun sah er sie an. Ihre Augen glänzten verräterisch.
Er sah auf sie hinab. Ihr Mund zitterte. Sie wollte stark sein, jetzt nicht weinen.
Der Vater ging in die Garderobe, nahm seine Jacke vom Hacken und schlüpfte in seine Schuhe.
Nun blickte das Mädchen in meine Richtung, ich wusste sie konnte mich nicht sehen, ihr hilfesuchender Blick brach mir fast das Herz. Ihre blauen Augen. Voll ungeweinter Tränen.
Hastig drehte sich die Kleine um und trippelte auf ihren kurzen Füßen ihrem Vater hinterher und hielt ihn zurück bevor er die Haustür aufmachte.
"Bitte." Ungeduldig klimperte er mit seinem Autoschlüssel, zögerte dennoch und sah auf sie hinab.
"Nein, bitte, Papa, bitte, geh nicht wieder!", schrie sie mit ihrer leisen Kinderstimme. "Bitte Papa, verlass mich nicht wieder! Ich brauche dich!", ihre Stimme ging in ein herzzerreißendes Schluchzen über.
Er sah sie an, riss sich los und das letzte was das kleine Mädchen hörte, war das höhnische Lachen ihres Vaters, bevor er die Wohnung verließ.
Als sich die Türe schloss, drehte sich das kleine Mädchen wieder um. Sie stand mit ausdruckslosem Gesicht da, sie schluchzte weder, noch zitterte ihre Lippe mehr. Nur eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinab und fiel auf den Boden.
Es schien als wäre sie wie ausgewechselt.
"Ab jetzt bin ich stark!", schwor sich das kleine Ding und rieb sich die Augen, die hellblau strahlten, nur unterbrochen von einigen dunkleren Strichen darin.
Augen, an denen man zuvor jede kleine Gefühlsregung ablesen konnten, blickten nun kalt wie Stein auf diese Welt. In mancher Hinsicht war nun dieses kleine Mädchen erwachsen geworden.
Ihre Sicht auf die Menschheit änderte sich.
Die Erinnerung verblasste.
Ich seufzte und blinzelte meine verbliebene Tränen fort. Sei stark! Auf meinem Gesicht trat ein entschlossener Ausdruck, als ich mich aufrappelte und mir den Schnee von meinen Klamotten klopfte.
"Weißt du noch? Du wolltest nie so schwach sein und dich umbringen! Sei stark!", erinnerte ich mich selbst, "Denk doch gefälligst an deine Mutter und deine Schwester! Du willst doch nicht das es ihnen schlecht geht! Also beweg deinen faulen Hintern in Richtung Zuhause!"
Oh man konnte ich motivierend sein.
Bis auf die Knochen durchnässt und ständig niesend, tauchte ich dann schlussendlich doch wieder vor unserer Wohnung auf.
Als meine Mutter mich so sah hielt sie sich vor Schreck die Hand vor dem Mund. "Oh du meine Gute, Sissi! Was ist passierte?", brachte sie hinter vorgehaltener Hand hervor.
Ich winkte ab, lachte und flunkerte.
"Es war doch bloß ein Sturz."
Bloß ein Sturz.
Meine Mutter atmete erleichtert aus.
Na, warum erzählst du ihr nicht wie schwach du warst?
Hastig ging ich in mein Zimmer um mich meiner klatschnassen Sachen zu entledigen.
Vor meiner Mutter konnte ich fliehen, jedoch nicht vor meiner inneren Stimme, geisterte es mir durch meine Gedanken.
Ich zog mir etwas Warmes über, hängte meine nasse Kleidung zum Trocknen über die Heizung und föhnte mir die Haare.
Ein kurzer Blick auf mein Handy sagte mir, dass es schon 21:37 war. Bald musste ich schlafen gehen, morgen hatte ich ja vor mich mit Kiara und Alex zu treffen.
Als ich mich dann, zu späterer Stunde, ins Bett kuschelte, diie Decke bis zum Hals zog und das Licht löschte, erwachte sofort ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. So viel Dunkelheit.
"Hallo? Du hast dich gerade mitten in der Nacht in den finsteren Wald gelegt und jetzt hast du Angst vor deinem eigenen Schlafzimmer? Ja, das ist wirklich logisch.", flüsterte ich mir zu. Meine Stimme triefte vor Sarkasmus.
Nichtsdestotrotz hatte ich Angst.
Doch ich schloss die Augen und wünschte mir nichts sehnlicher als diese Nacht wenigstens einmal nichts zu Träumen.
Doch wann gingen Wünsche je in Erfüllung?
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Werd' erwachsen, kleines Mädchen
Random"Ich fühle mich einsam. Allein. Warum bin ich nur so? Ich möchte gerne anders sein. Besser. Irgendwann werde ich es euch allen beweisen!" Das Leben der 19-jährigen Sissi wird nur von einem Wort beherrscht: Angst. Die Angst zu versagen, Angst vor der...