Den ganzen Tag vor mich hin grübelnd, ließ ich mich dann spätabends deprimiert ins Bett sinken. Doch so sehr ich mich auch bemühte, unter der Decke hin und her wälzte, der Schlaf wollte nicht über mich kommen.
Mit einem frustrierten Stöhnen bedeckte ich meine Augen mit den Händen und fuhr mir übers Gesicht.
Danach setzte ich mich auf und massierte mir mit Daumen und Zeigefinger meinen Nasenrücken.
Irgendwie dröhnte mir der Kopf, naja, auch kein Wunder, bei den vielen depressiven Gedanken in letzter Zeit.
Am liebsten wollte ich schlafen. In diesen Stunden war es mir wenigstens möglich alles zu vergessen. Meine Ängste schlichen sich selten in meine Träume, aber wenn es dann doch mal geschah, war es so intensiv, dass ich mitten in der Nacht panisch aufschrak, nicht mehr einschlafen konnte und mir der Alptraum noch tagelang im Kopf herumspukte.
Heute war an Schlaf anscheinend überhaupt nicht zu denken, denn mein brummender Schädel ließ sich einfach nicht abstellen, stattdessen zeigte mein Gehirn mir wieder einmal ein längst vergessenes Geschehniss auf. Ich schloss dir Augen und ließ es zu.
Ich stand in einem Raum, ein kleines Zimmer, es glich meinem Zimmer, nur waren die Wände weiß statt violett und auch die Möbel waren anders. Vor mir stand ein riesengroßer Mann. Ich musste meinen Kopf weit in den Nacken legen um sein Gesicht zu sehen.
Er hatte ein kantiges Gesicht, aber irgendwie war es trotzdem dick oder vielmehr aufgequollen. Er hatte freundliche Augen, aber einen schrecklichen Haarschnitt. Eine fettige Strähne fiel ihm ins Gesicht.
Narben von längst vergangenen Windpocken zierten seine Haut und als krönenden Abschluss besaß der Mann einen ungepflegten Vollbart, den er sich gerade ungeduldig rieb.
Mit der anderen Hand fuhr er sich durch die Haare und kleine weiße Schuppen rieselten zu Boden. Der Mann war wirklich ungepflegt, auch seine Kleidung verströmte einen eigenartigen Geruch, als hätte er sie schon zu lange getragen.
Plötzlich lachte die Person höhnisch und sah mich an.
Komischerweise ließ mich dieses Lachen frösteln.
Warum war der Mann nur so groß? Mein Nacken versteifte sich schon, konnte er nicht Rücksicht auf mich nehmen und sich wenigstens ein bisschen herabbeugen?
Auf einmal hörte ich mich laut "Warum?" fragen, meine Stimme klang heiser, einer Kinderstimme ganz ähnlich.
Nun ging der riesige Mann in die Hocke und flüsterte mir zu: "Wegen dir. Wärst du nicht am Leben, wäre alles wie zuvor, jeder wäre glücklich."
Damit richtete sich der Mann wieder zu seiner vollen Größe auf, drehte sich um, marschierte mit riesigen Schritten aus dem Zimmer und schloss geräuschvoll die Tür.
Ich fühlte nichts, nur heiße Tränen, die meine Wange hinabkullerten.
Als ich wie gelähmt den Raum durchquerte, blieb mein Blick an einem Spiegel hängen.
Ein kleines Mädchen mit tränenüberströmtem Gesicht sah mir entgegen. Sie berührte das kalte Spiegelglas, ihre zarten Kinderhände zitterten dabei und ihre Unterlippe bebte.
Sie war Schuld. Sie war Schuld. Nur sie alleine. Weil sie es sich erlaubt hatte zu leben. Sie hatte alles zerstört.
Man konnte sehen, wie sich diese Worte in die Seele des kleinen Mädchens einbrannten. Schon wieder war etwas in ihr zerbrochen.
Niemand wusste wie viel Trauer so ein kleines Ding verkraften konnte.
Sie wusste jedoch nur eines, sie musste stark sein.
Keuchend riss ich die Augen auf, Tränen flossen mir ungehindert übers Gesicht. Ich starrte an die Decke und versuchte meine Atmung wieder zu normalisieren.
Ich knipste meine Nachttischlampe an, plötzlich ging es mir überhaupt nicht gut, mein Magen fühlte sich ganz verkrampft an.
Ich hechtete zur Toilette, mit der berechtigten Angst mich übergeben zu müssen. Tatsächlich. Ich kam keine Sekunde zu spät.
Ich verharrte noch einige Minuten mit dem Kopf über der Schüssel, doch als ich mir so ziemlich sicher war, das mich nicht noch ein weiterer Brechreiz überrollen würde, wischte ich mir den Mund ab und spülte.
Als ich aus der Toilette torkelte, fühlte ich mich schwindelig und schwach. Ich brauchte meine Mama. Doch als ich meine Hand auf die Türklinke legte und sie gerade hinunter drücken wollte, spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Körper und mir wurde allmählich schwarz vor Augen.
Ich merkte nur noch wie ich mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel und die Türklinke mit einem lauten Geräusch wieder in ihre Ausgangsposition zurückschnellte.
Als mein Kopf mit lautem Krach gegen die Glastür stieß, war ich endgültig weg.
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Werd' erwachsen, kleines Mädchen
Random"Ich fühle mich einsam. Allein. Warum bin ich nur so? Ich möchte gerne anders sein. Besser. Irgendwann werde ich es euch allen beweisen!" Das Leben der 19-jährigen Sissi wird nur von einem Wort beherrscht: Angst. Die Angst zu versagen, Angst vor der...