Zwei

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Ich schritt die Treppen verträumt hinunter, doch als ich das Klimpern des Schlüssels hörte, flog ich schon fast wie ein Vogel über die Stufen. Als sich die Haustür öffnete und der von mir Erwartete unser Haus betrat, warf ich mich in seine Arme.
"Du kannst mich doch nicht so lange alleine Zuhause lassen. Ich langweile mich.", sprach ich gespielt schmollend. Er lachte herzlich auf und wir lösten uns aus der Umarmung.
"Morgen wirst du sicherlich nicht alleine sein, Silva."
Ich blickte in seine eisblauen Augen, die meinen nur zu sehr ähnelten. Für viele wirkten diese Augen eisig. Für mich herzlich.
Mir war es undenkbar, was andere für ein Bild von meinem Bruder hatten. Er sei kalt, brutal und hinterhältig. Mein Bruder. Niemals.
Sein Lächeln, welches er mir jeden Tag zeigte, sprach Bände. Er könnte doch nie dieser gewalttätige Mafia-Sohn sein, der jeden Angst einflößte. Trotz seiner geschwisterlichen Liebe mir gegenüber war er es. Ein kaltblütiger Mörder.
Schließlich erinnerte ich mich wieder an seine Worte und ich fragte nach, was morgen denn passiere.
"Der Ilvian-Clan kommt morgen zum Essen zu uns. Freust du dich?"
Als Antwort klatschte ich bloß in meine Hände und ließ einen kleinen Freudeschrei von mir los.
Der Ilvian-Clan war eine kriminelle Organisationsgruppe, wessen von Eric Ilvian angeführt wurde. Eric Ilvian war ein Verbündeter unserer Familie und auch ein guter Freund meines Vaters. Sein Sohn, der in meinem Alter war, hieß Phio. Ich kannte ihn schon mein Leben lang und diese Verbindung zu ihm tat mir gut. Er war die einzige Person, die ich außerhalb meiner Familie und meiner besten Freundin Lyria hatte. Er war mit vierzehn Jahren ebenfalls die Organisation seines Vaters beigetreten und in ihm lag nun der Hoffnungsträger für seinen Vater im Machtspiel der Clans. Wie es auch mein Bruder gegenüber meines Vaters war.
"Wenn du schon bei dieser Überraschung Freudensprünge machst, dann bin ich mal gespannt, wie du jetzt reagieren würdest."
Als mein Bruder diesen Satz beendete, griff er hinter sich. In seinen Händen hielt er, ich konnte es kaum fassen, ein seltenes Gewächs, was in meiner Sammlung noch fehlte. Ich sprang ihn noch einmal in die Arme und nahm den Topf an mich. Ich betrachtete die Pflanze. Das Besondere an ihr, waren die unzähligen Verzweigungen, die sich in die Lüfte streckten, um an das Sonnenlicht zu gelangen. Jeder Zweig war in einem anderen Grünton gefärbt und wirkte schon fast majestätisch.
Ohne ein weiteres Wort lief ich die Treppen hinauf und stellte sie direkt in die Reihe zu den anderen. Es war vollkommen.
Von unten hörte ich die Stimme meines Bruders ertönen:"Wie kann sich meine kleine Silva, die Tochter des mächtigsten und gefährlichsten Mannes, so für Pflanzen faszinieren." Ich hörte sein Lachen.
Ich ging nicht auf seine Aussage ein und erwiderte stattdessen, als ich wieder in der ersten Etage unseres Hauses angelangt bin:"Du warst bestimmt den halben Tag weg, um mir dieses Geschenk zu holen, nicht wahr?" Meine Stimme war nun eine Oktave höher als sonst. Das tat sie immer, wenn ich sarkastisch wurde. Um meine Frage geschickt zu umgehen, legte er seinen Arm um meinen Hals und wuschelte meine blonden Haare durcheinander. Dabei rief er:"Für meine Schwester tue ich doch alles."
"Lass das!", schrie ich, doch mein Lachen verschluckte die Worte.
Ich wusste, dass er log. Doch ich ließ es gut sein.
Letztendlich befreite er mich aus seinen Fängen. Er begab sich in die Küche und ich hörte das Öffnen des Kühlschranks. Er schaute sich alles sehr prüfend und genau an.
Eigentlich hatten wir genug Vermögen, um uns einen persönlichen Koch einzustellen, doch in diesem Falle war meine Familie altmodisch. Ich mochte das.
Wir hatten zwar unzählige Sicherheitsmänner, einen privaten Lehrer und eine Haushälterin, doch Kochen konnten wir noch alleine.
Als mein Bruder sich ein Sandwich in den Mund steckte, kam ich auf eine gute Idee. Schließlich war mein Bruder nicht immer in guter Laune, wie er es jetzt war.
"Wir könnten heute vielleicht Mal zur Abwechslung rausgehen. Einen Spaziergang machen oder so." Dann ergänzte ich noch leise und schüchtern:"Vielleicht in den Wald."
Als mein Bruder diese Worte hörte, versteifte sich sein gesamter Körper und ich konnte ihm die Anspannung förmlich ansehen. Er schluckte das letzte Stück des Sandwiches hinunter und schaute mich mit seiner typischen Ernsthaftigkeit an. "Das werden wir nicht, Silva. Du weißt, dir ist es verboten, das Grundstück zu verlassen. Und vor allem wirst du mir nicht in den Wald gehen. Du weißt, es ist..."
"Zu gefährlich.", machte ich seine Stimme nach und verdrehte genervt die Augen. Doch ich wollte so unbedingt raus. Frei von diesen Zwängen. Frei von allem sein.
"Wenn du dein 18. Lebensjahr erreicht hast, dann erlaubt dir Vater bestimmt, mit mir in die Stadt zu gehen oder Ähnliches zu tun. Ein Jahr kannst du doch sicherlich noch warten, Silva."
305 Tage, 14 Stunden und 23 Minuten um genau zu sein.
Mein Bruder legte sein Arm auf meiner Schulter ab, da ich mindestens einen Kopf kleiner war als er, und dabei drückte mich mit ein wenig Kraftaufwand näher zu Boden. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und die Stimmung war allmählich entspannter.
"Lass uns stattdessen einen Film gucken, ja?", schlug er vor. Ich verdrehte meine Augen. Was tat ich denn an sonstigen Abenden? Ich kannte die gesamten Filme schon auswendig, doch ich ließ mir nichts anmerken und stimmte mit einem leichten und freudigen Nicken zu.

The Golden BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt