Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker, woraufhin ich laut aufstöhnte. Die Vögel sangen schon ihr heiteres Lied und sie brachten mich dazu, aus meinem Bett zu steigen. Wenn diese schon so wach und munter waren, kann es für mich doch bloß ein Leichtes sein.
Ich streckte mich, um allmählich meinen Körper auf Bewegung zu stimmen. Ich dehnte jeden Muskel und spürte, wie meine Laune langsam stieg.
Wie jeden Tag goss ich als erstes meine Pflanzen mit einer großen Kanne voller Wasser. Eigentlich könnte ich auch Lyria, unsere Haushälterin, beauftragen, dies täglich zu tun, doch auf irgendeine Weise ließ ich das nicht zu. Schließlich waren es meine und ich hatte sowieso den ganzen Tag nichts zu tun, weshalb mir diese alltägliche Aufgabe mehr als Recht war. Eine Mutter wollte doch auch nicht, dass andere ihre Kinder fütterten und erzog.
Ich zog mich rasch an und in dem Zeitpunkt als ich fertig war, hörte ich schon das Klingeln an der Tür. Aus meinem Zimmer vernahm ich die fröhliche Begrüßung Lyrias nachdem sie die Tür öffnete und meinen Lehrer eintreten ließ.
Meine Füße tappten über das Holz des Bodens bis zu einem Tisch, der speziell für unseren Unterricht hergerichtet war. Mein Lehrer Herold, den ich mit Vornamen ansprechen durfte, saß bereits auf einen der beiden Stühle und begrüßte mich. Ich kannte ihn erst seit wenigen Tagen, da mein vorheriger Lehrer durch Überredungskünsten meines Bruders auf meine Eltern gefeuert wurde. Er sei zu jung und zu unerfahren in Sachen des pädagogischen Lernens, doch der wahre Grund ließ sich nur erschließen. Mein Lehrer stellte eine Gefahr für das Gleichgewicht der Familie dar aufgrund der Tatsache, ich würde mich bestimmt irgendwann in ihn verlieben und mit ihm durchbrennen. Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln, doch als der Klang des Schusses abermals durch meine Ohren brannte, verschwand das Schmunzeln. Einen Angestellten zu entlassen hieß in unserer Familie etwas anderes, als in anderen.
Herold dagegen war in einem hohen Alter, ausgesprochen faltige Hände und ein herzliches, warmes Lächeln. Ich hatte nichts gegen ihn. Im Gegenteil.
Als der übliche Unterricht seinen Lauf nahm, machte Lyria währenddessen Frühstück für mich. Sie wusste, dass ich zu lange schlief, um vor dem Unterricht noch etwas in den Magen zu kriegen. Es war ein alltäglicher Morgen im Hause dieser Mafia-Familie. Mit einem breiten Lächeln stellte sie mir einen Teller mit Spiegeleiern und Toast hin. Harold erklärte mir den Satzbau des lateinischen Textes weiter, während ich seelenruhig mein Toast aß und ihm meine Aufmerksamkeit schenkte. Jedoch wurde meine Aufmerksamkeit immer geringer. Statt ihm zu zuhören, starrte ich seine grauen Haare an, die im Schein der Sonne funkelten. Mein Bann war vollkommen auf das Glitzern gerichtet bis jemand durch das Haus rief:"Hey Schwester, ich bin wieder Zuhause."
Ohne darüber nachzudenken rannte ich meinem Bruder in die Arme. Er erlöste mich aus diesen eintönigen letzteren Stunden. Mein Bruder nickte Harold zu, um zu deuten, dass der Unterricht beendet war. Dieser schloss die Bücher, nahm den letzten Schluck seines schwarzen Kaffees und verabschiedete sich.
Mein Bruder schaute ihm nach und fragte mich dann:"Ist alles in Ordnung?" Er stellte mir diese Frage immer. Jeden Unterrichtstag. Er konnte wirklich nicht schnell Vertrauen in andere Menschen entwickeln, was einerseits gut und andererseits auch schlecht war.
Seine Handflächen lagen auf meinen Oberarmen. Die Haut meines Bruders war eiskalt. Ich wollte gar nicht wissen, was er in seiner Abwesenheit getan hatte.
Ich nickte lächelnd aufgrund seinem brüderlichen Beschützerinstinkts und antwortete:"Natürlich ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen."
Meine Worte heilten ihn von seiner Unruhe. Auf seinen Lippen lag nun ein verschmitztes Grinsen:"Guck mal, wen ich mitgebracht habe?"
Er machte paar Schritte nach rechts, sodass jemand hinter dem Rücken meines Bruders zum Vorschein kam.
Phio.
Seine schmale Statur war hinter dem muskulösen Körper meines Bruders nicht erkennen zu gewesen. Phios rotbraun schimmernde Haare ließ er lässig auf seine Stirn fallen. Auf seiner hellen Haut sprenkelten sich vereinzelte Sommersprossen wie auch Tätowierungen zierten sich über seinen Armen. Sein Lächeln steckte mich ebenfalls zu einem an. Ich fiel in Phios Arme und fühlte mich direkt wohl in seiner Nähe. Ich mochte ihn so gerne.
"Was machst du hier?", fragte ich als wir uns aus der Umarmung lösten.
Er zuckte die Achseln. "Darf ich nicht?", schmunzelte Phio. "Früher war ich doch jeden Tag bei euch."
Das stimmte. Unsere Familien waren schon fast zu einer verschmolzen. In unserem früheren Jahren spielten wir viel in unserem riesigen Haus. Es bot sich schon an, in dessen Verstecken zu spielen. In mir lag eine gewisse Leichtigkeit als ich an diese Momente dachte.
"Du weißt doch, dass die Ilvians heute zum Essen erscheinen." Mein Bruder hob fragend seine Augenbrauen, als er dies aussprach. Und ich erinnerte mich wieder.
"Und außerdem wollten wir mal wieder eine Runde Zocken.", warf Phio ein.
"Ich werde euch fertig machen.", sagte ich vielversprechend.
"Wer sagt, dass meine kleine Schwester mitspielen darf?" Das Grinsen meines Bruders wurde mit seiner rhetorischen Frage nur noch breiter.
Ich verschränkte beleidigt meine Arme vor der Brust, weshalb mein Bruder mir wieder durch die Haare wuschelte. Er tat es wirklich immer...
"Ach komm, Luke, lassen wir sie einmal spielen. Vielleicht hat Silva verborgene Talente.", rief Phio und legte seinen Arm um mich als wir uns auf den Weg zu dem Zimmer meines Bruders aufmachten.
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The Golden Blood
Romance*** Der Hass, der Schmerz, die Leidenschaft, die Begierde. Alles schien vergänglich. Eine Rose konnte mit einem Windstoß in ihre Einzelteile zerfallen. Ein einziger Windstoß. Doch würde die Rose mit Gold übergossen werden, würde sie immer noch zer...