Die kleine Sirene

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„Über dem Wasser gibt es Leben. Viel Leben. Vögel, Katzen, Hunde, Mäuse, Eulen. Manche fliegen und durchmessen mit ihren Schwingen den Himmel, nennen ihn ihr Eigen und herrschen über die Lüfte, spielten mit dem Wind. Andere springen und tollen, rennen und liegen auf der Erde, beanspruchen sie für sich und leben dort in Einklang mit den Pflanzen und anderen Lebewesen, nehmen das, was sie zu Leben brauche und verbringen ihre Zeit mit wichtigen Dingen. Manche zeigen sich nur nachts, erwachen mit dem ersten Dunkel, dem ersten tiefschwarzen Tönen des Himmels die wie Pech über ihn rinnen zum Leben und herrschen dann erst mit ihren Gefährten und wachen. Und dann gab es da noch die Menschen. Menschen, die Lebewesen, die sowohl die Erde als auch den Himmel für sich wollten. Einige waren gierig, andere bescheiden, manche lebten zusammen mit anderen, ein paar alleine und einsam. Die meisten waren glücklich und zufrieden, andere wiederum unglücklich und suchten nach einem Sinn in ihrem Dasein. Jedes Lebewesen hatte einen, sei es noch so klein und unbedeutend. Bienen hielten die Pflanzen am Leben, Wölfe jagten kranke und alte Tiere, hielten so das Gleichgewicht zwischen dem Fressen-und-gefressen-werden der Pflanzenfresser, Vögel jagten Insekten und fraßen sie, Eichhörnchen begünstigten das Wachstum von Bäumen, und der Sinn von Menschen auf dieser Welt? Man sollte meinen, dass sie an der Spitze der Nahrungskette stünden, sie hätten ja keine natürlichen Feinde, außer sich selbst. Das, so stand es allerdings nirgends geschrieben, da man es verheimlichen wollte, war eine Lüge. Wir redeten über Wesen und Kreaturen über dem Meer, aber was ist mit dem darunter? Natürlich lebten dort im Wasser Fische, Haie, Wale, Delphine, Seeschnecken, Muscheln, Seesterne und noch viele andere Tiere, das Meer war immerhin eines der Artenreichsten Territorien dieser Welt. Allerdings gab es auch ein Gegenstück zum Mensch, der aus Erde, Luft und Feuer geschaffen worden war. Luft, die er atmete, das Feuer, was in uns allen brannte und am Leben hielt und schließlich der Körper, der für die Erde geschaffen worden war. Ein fast exaktes Abbild gab es im Meer, wurde von einem Wesen geschaffen, älter als die Zeit. Geboren aus Wasser, Luft und Feuer. Wasser ersetzte diesen Wesen die Erde, sie lebten im Meer, am Grunde des Ozeanes. Ihre Körper glichen denen der Menschen, jedoch besaßen sie statt zwei Beinen eine Flosse, einen Fischschwanz, mit dem sie sich fortbewegten. Kiemen besaßen sie auch, filterten mit deren Hilfe den Sauerstoff aus dem Wasser, jedoch konnten sie auch wie die anderen Lebewesen ganz normal über ihre Lunge atmen, normale Luft atmen. Für diese mystischen Wesen war dies essenziell nötig. Aber was will ich euch nun damit sagen? Nun, diese Wesen waren das Gegenstück des Menschen. Vor Jahrhunderten, in längst vergessenen Zeiten, herrschte ein stiller Krieg zwischen diesen beiden Mächten, Menschen und Meermenschen. Menschen wurden von ihnen gefressen und andersherum. Diese Verluste erzürnte beide Parteien immer mehr bis schließlich ein wirklicher Krieg unmittelbar bevorstand. Kurz bevor die Waagschale zu kippen drohte wurde von zwei Vertretern der Parteien ein Abkommen geschlossen. Eine Hexe versiegelte die wahre Natur beider Rasse, die der Menschen und die der Meermenschen, machte sie friedlicher, warnte sie jedoch auch. Ihre Macht würde nicht für immer währen und auch würden ihre Zauberkräfte nicht endgültig das Böse in jedem einzelnen ersticken und versiegeln. Es würde von Zeit zu Zeit immer wieder vorkommen, sowohl bei Menschen als auch Meermenschen, dass jemand aus ihrem Volk bösartig wurde. Jedoch konnte sie das Bedürfnis nach dem Blut und dem Fleisch des andere endgültig ausrotten. Man verspürte nicht mehr den Drang sich gegenseitig zu fressen und lebte friedlich zusammen. Jedoch zogen sich die beiden Völker voneinander zurück und schließlich gerieten die Meermenschen in Vergessenheit. Diese Vergessenheit jedoch war tödlich. Eine andere Hexe, eine Seehexe, verfluchte einige Meermenschen. Diese wurden zu sogenannten Sirenen. Es waren junge, schöne Frauen und Mädchen mit einer bezaubernden Stimme, die sie verfluchte. Sie seien verdammt dazu, Menschen mit ihren Stimmen in den Tod zu locken. Vorerst war es eine große Bürde, jedoch wurden diese Sirenen schon bald als Sänger bekannt und im ganzen Reich gefeiert. Sie hielten sich von Menschen fern, kamen allerdings an stürmischen Nächten und Tagen hervor, da sie Mitleid mit den Fahrern hatten. Erkannten sie, das ein Schiff sinken würde und die Menschen sterben mussten, fingen sie an zu singen, um die Qualen zu erleichtern und ihnen einen angenehmen Tod zu bescheren. Konnte das Schiff jedoch weiter fahren, verschwanden sie wieder ungesehen im Meer. Hin und wieder jedoch erhaschten Menschen einen Blick auf ihre Artverwandten und so brauten sich schon bald Sagen um dieses mystische Volk zusammen. Und bis heute halten sie sich hartnäckig in unserer Welt." Der alte Mann am Kai endete und rauchte an seiner Pfeife, blies den Tabakrauch in Ringen in die Luft und nahm sein Akkordeon wieder in den Schoß. Die Kinder vor ihm starrten ihn aus großen Augen an. Er war ein alter, viel gereister Kapitän und nun unternahm er nur noch selten einige Fahrten in ferne Häfen, jedoch war er jeden Tag im Hafen und spielte alte Seemannsweisen und erzählte von seinen Reisen. Viele Kinder kannten ihn, auch die Eltern, er war ein berühmter Mann in ihrem Örtchen. Jeder kannte ihn, den alten Seefahrer mit seinem grauen Stofftuch um den Hals, die dunkle Filzjacke stets umgelegt, selbst wenn es warm war, seine abgetragene, blaue Hose und das Kopftuch stets schräg über die vernarbte linke Augenhöhle gewickelt. Sein Auge hatte er vor vielen Jahren in einem Sturm verloren, ebenso seine heiß geliebte Besatzung. Und jedes Mal, wenn er den Kindern Seemannsgarn oder Geschichten erzählte, warnte er sie an dessen Ende, bevor er wieder sein Akkordeon nahm und anfing zu spielen, so wie jetzt. „Und bei meiner Ehre als Seemann, ich schwöre euch, dass alles wahr ist. Meermenschen und Sirenen gibt es wirklich, nehmt euch vor ihnen ja in Acht. Sie mögen zwar weniger gefährlich sein, aber immer noch eine harte Nummer. Fahrt weder bei Sturm noch nachts hinaus um zu fischen, Kinners, sonst landet ihr alle im Wasser und ertrinkt vermutlich noch wenn sie euch einsingen. Diese Sirenen sind gieriges Pack. Meine ganze Crew hab ich im Sturm verloren, und mein Auge noch dazu. Last euch das gesagt sein!" Dunkel und unheimlich hallten seine Worte durch den Kai, die Kinder schreckten zurück. Ein junger Mann ging grinsend an dem alten vorbei, stellte sich vor ihn und fragte frech: „Ach, ist das so? Was würde wohl passieren, wenn man eine dieser Kreaturen aus dem Meer ziehen und fangen würde? Hmm, alter Seebär? Was wäre dann?" Der Junge machte sich über den Krüppel witzig, zog seine Erzählung in den Dreck. Ruhig paffte der Alte noch einmal an seiner Pfeife, blies wieder Rauch in die Luft und sagte Nachdenklich: „ Hmm. Vermutlich würden sie es überleben an Land zu bleiben. Das Meer vermissen würden sie schon, genau wie ich und alle anderen in diesem Städtchen, aber wirklich leiden? Es gäbe sicher ‚ne Menge Heuer dafür. Genug, um nie mehr aufs Meer fahren zu müssen. Aber wer will das den schon, für immer auf'm Trockn'en leben?" Er lachte und fing an zu spielen. Die Menge teilte sich auf, die Kinder liefen nach Hause oder zu ihren Freunden, spielten am Wasser oder gingen zum Markt. Einzig ein Junge mit Augen die wie das Meer funkelten blieb stehen, starrte den Alten weiter an. Er wollte mehr hören, immer mehr erfahren. Laut halte eine alte Seemannsballade durch das Hafenbecken. „Hüt' dich ja vor dem Meer, Kleiner. Es kann gefährlich sein mit den Mächten der Natur zu spielen." Murmelte der Seefahrer noch, da kam eine Frau auf ihn zu, nahm den Jungen bei der Hand und schimpfte mit ihm. „Eren, ich hab dir gesagt, dass du nicht soweit vorlaufen sollst! Was, wenn du dich verirrst oder dich jemand mitnimmt?" Die Mutter machte sich sichtlich sorgen um ihr Kind. Eren versuchte zu antworten, doch es gelang nicht. „Komm jetzt, wir wollten doch nur etwas für deinen Vater auf dem Festland kaufen. Unsere Fähre geht gleich los und wir müssen zurück, bevor es dunkel wird." Die Mutter zog ihren Sohn in Richtung der Anlegestelle, dieser starrte nach hinten, den Akkordeonspieler an. Dieser lächelte, für einen kurzen Moment, so schien es dem Kind, als würde er über die Naivität der Menschen lachen, ihm zu glauben. Ob er selber einer dieser Meermenschen war? Eren fragte sich das bis er und seine Mutter vom Festland ablegten, das Schiff in Richtung ihrer Heimat fuhr. Die Überfahrt auf ihre Insel dauerte nicht lange, höchstens zwei Stunden, allerdings munkelten die Matrosen über eine Sturmflut, die angeblich aufzog. „Mama, was wäre, wenn wir eine Sirene sehen würde?" fragte er da plötzlich seine Mutter. Sie drehte ihm den Kopf zu, kniete sich neben ihn. Der Wind des Meeres strich ihr durch die Haare, jagte über das Deck, spielte mit den Segeln und trieb das Schiff voran. „Ach Eren... Denk doch nicht an so etwas." Eren ließ seine Mutter nicht durch seine Haare streichen. „Aber was, wenn es sie wirklich gäbe? Wenn wir eine fangen würden, dann hätten wir nicht mehr diese ganzen Geldsorgen! Das hat der alte Seemann gesagt, Mama!" Die Brünette drückte ihren Sohn an sich. Er war in ihren Augen immer noch ihr kleiner Eren, ihr kleiner Junge, den sie vor sieben Jahren noch am Strand beobachtet hatte, wie er mit seinen Freunden durch die Wellen gerannt war, johlte und alle nass spritze. Ihr kleiner Junge, der immer mit Schrammen nach Hause kam, immer mit einem kleinen Fisch oder Seestern in seinem Eimer und der bettelte, ihn behalten zu dürfen. Sie sah immer noch ihren kleinen Jungen, jedoch war er mittlerweile schon zu alt für so etwas. Die Zeit flog in diesem Leben einfach zu schnell. Wenn der Tag doch nur mehr Stunden hatte, wenn die Zeit langsamer fließen würde. Denn diese sieben Jahre lagen nun schon weit zurück, Carla kam es wie eine Ewigkeit vor. Ja, vor ihr an der Reling stand nicht mehr ihr kleiner Eren, sondern ein heranwachsender junger Mann, der sie immer noch liebevoll Mama nannte, immer noch dieses Wilde an sich hatte, was er nie ganz verloren hatte. Er glaubte an das Seemannsgarn in den Häfen, an diese Legenden über Nixen, Sirenen und Meermenschen. Er wollte, dass sie wahr waren, da seine Mutter das Geld brauchte. „Ach Eren..." murmelte sie und drückte den Jungen an sich. Er drückte sie ebenfalls. „Alles wird gut Mama. Aber wir sollten runtergehen. Ein Sturm zieht auf."

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