Adriane lächelte den kleinen Jungen an, welcher ihr ebenfalls ein Grinsen schenkte. Die Stumme hielt einen leeren Krug hoch und deutete erst auf den Jungen, dann auf das Gefäß. Dieser planschte aufgeregt herum und sprang breitwillig in das Gefäß hinein als sie es mit Wasser aus seinem Glas gefüllt hatte. Sie versteckte ihn geschickt seit einiger Zeit vor ihren Freunden und ihrer Familie. Nun wollte sie ihn das erste Mal überhaupt zum Meer mitnehmen, dahin mitnehmen, wo sie ihn gefunden hatte.
Sie verbarg den Krug geschickt ihn den Falten ihres cremefarbenen Gewandes und hörte das Wasser in diesem herumplatschen, vermutlich war ihr kleiner Freund genauso aufgeregt wie sie selber. Leise stieg sie im Morgengrauen die Stufen ihres Zimmers hinunter, ihre Eltern schliefen noch als sie das Haus verließ. Unter dem grauen Morgenhimmel und einer steifen Brise machte sich das Mädchen mit ihrem Freund im Gepäck auf zum Strand. Die Möwen kreischten über ihr, der Salzgeruch stieg ihr schon von weitem im die Nase und sie genoss jeden Schritt zum kühlen Nass hin, den sie tat. Als das ihr nur allzu vertraute Knirschen unter ihren Füße erklang wurde sie langsamer, holte den Krug hervor und drückte ihn an ihre Brust. Little, wie sie den Jungen still getauft hatte, streckte seinen Kopf heraus und zappelte freudig noch mehr als vorher. Es freute das Mädchen, dass er so neugierig war. Sie hatte sein Vertrauen verdient über die Zeit die er mittlerweile bei ihr lebte, jedoch machte sie sich auch sorgen um ihn. Seit ein paar Tagen war er nicht mehr so fit wie noch zu beginn, er schlief länger und am Boden seines Glases hatte sie ausgefallene Schuppen entdeckt. Sie sorgte sich um ihn und hoffte, dass ihm ein kleiner Aufenthalt im Meer gut tun würde.
Sie hatte das Fischglas mitgenommen und stellte den Krug sicher im Sand ab, nahm das Glas und füllte es mit Meerwasser, kehrte anschließend zu dem Kleinen zurück, welcher aufgeregt im Krug herumplanschte. Adriane nahm ihn lächelnd hoch und er sprang aus dem Krug in das Fischglas hinein, schien sich pudelwohl zu fühlen. Sie hob ihn vorsichtig in dem Glas hoch und wollte sich gerade zum Gehen bewegen, als hinter ihr eine Stimme erklang.
„Du solltest ihn zurückschicken." Vor Schreck lies das Mädchen fast den Fischtank fallen, hinter ihr saß im Rollstuhl Maike, das stumme Mädchen aus dem Dorf. Sie hatte langes, aschblondes Haar, welches ihr geflochten in den Schoß fiel, die Beine waren mit einer dicken Wolldecke verhüllt, um ihren Hals lag ein dicker roter Schal der ihren kompletten Hals verdeckte und ihre Augen blitzen drein wie Klingen aus Eis. Doch ihre Stimme klang wie die einer Möwe, heiser und schrill, als würde sie normalerweise nicht sprechen.
„Ich weiß, dass du einsam bist, aber der Kleine gehört nicht hierher, er gehört ins Meer. Da, wo du ihn her hast." Unter Husten kam dies aus dem Mund der aschblonden, sie schien sichtlich Mühe zu haben etwas zu sagen. Adriane presste das Glas enger an ihren Oberkörper. Little zurück ins Meer schicken? Aber er war doch noch so klein und konnte sich nicht wehren! Vehement schüttelte sie den Kopf, der Wind pfiff durch ihre Haare, bauschte ihren Rock auf. Maike seufzte nur, als wäre dies schon duzend Mal passiert seit sie lebte.
„Adriane, er wird sterben, wenn du ihn weiter in diesem Glas behältst. Das hier ist nicht seine Welt. Außerdem solltest doch gerade du wissen, wie es ist, in einem Käfig aufzuwachsen. Komm schon." Die Jüngere senkte den Kopf, starrte den kleinen an, welcher verunsichert dreinsah. Ja, sie wusste wie das war. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie ihn gehen lassen müsste, allerdings wehrte sich alles in ihr dagegen. Sie hatte endlich eine Aufgabe, die wollte sie nicht verlieren. Sie wollte nicht wieder einsam sein. Maike rollte etwas näher an sie heran, langte tröstend nach ihrer Schulter.
„Ach Audry... Lass ihn einfach frei." Sanft drückte sie die Blonde zum Meer, diese wollte schreien, sie anbrüllen, ihr nicht vorzuschreiben, was sie zu tun hatte, doch kein Laut entwich ihrer Kehle, lediglich der Wind erhob seine Stimme und heulte lauter auf, brach sich mit den Wellen hinter ihr, wie als wolle er dieses Trauerspiel untermalen. Langsam kehrte Adriane ihr den Rücken und wankte zum Meer. Sie wollte nicht, doch innerlich wusste sie schon lange, dass Little zurück musste. Es ging ihm langsam immer schlechter in seinem Glas. Er musste zurück, auch wenn sie das nicht wollte. Ein wohliger Schauer überfiel sie als das Wasser um ihre Beine spülte und ihren Rock schwer werden ließ, als der Stoff sich mit Wasser vollsaugte. Als sie etwa bis zur Hüfte im Wasser stand drückte sie das Glas noch einmal an sich und setzte es dann vorsichtig auf dem Wasser ab. Sofort schwamm Little heraus, planschte freudig im Meerwasser herum, er fühlte sich mehr als wohl. Adriane standen Tränen in den Augen, Tränen des Abschieds. Weinend drehte sie sich um und wollte zurück zum Strand Watten, allerdings hielt sie etwas zurück. Sie drehte sich um und sah die kleinen Hände des Schwarzhaarigen, welche sich in ihrem Rock verkrallt hatten und sie mit ins Wasser ziehen wollten, so schien es ihr.
'Ach Little...' Sie schüttelte den Kopf und deutete zurück zum Strand. Ein Lächeln stahl sich über das Gesicht des Kleineren, er ließ los und begann neben ihr herzuschwimmen, begleitete sie zum Strand. Dort jedoch angekommen rannte sie ohne eine Geste des Abschiedes oder sonst etwas fort, ließ ihn zurück. Verwundert und auch traurig blickte ihr der Kleine nach, doch er konnte ihr nicht hinterher. Er hatte eine Flosse, für das Wasser, keine Beine um an Land zu laufen. Maike, die im Rollstuhlsitzende, blickte den kleinen kurz an, schüttelte dann nachdrücklich den Kopf und machte kehrt, schob sich selber zum Dorf. Zurück blieb ein verständnisloser Junge im Meer.
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Die kleine Sirene
Romance- Was wäre, wenn du eine Sirene treffen würdest? Was würdest du tun? Was wäre das erste an was du denkst? Geld? Liebe? Ruhm? Oder etwas ganz anderes? Und was wäre, wenn sich eine Sirene in dich verliebt, entgegen aller Gesetzte? - Bei Sturm zur See...