Adriane rannte, sie rannte wie noch nie zuvor in ihrem Leben, Little an sich gepresst. Der Kleine zappelte und verkrallte sich in ihrem Mantel, er hatte Angst, dass sie ihn eventuell fallen lassen könnte. Der Wind strich ihr durch ihr Gesicht während sie stolpernd durch die Dunkelheit der Nacht lief, das Herz bis zum Hals schlagend, sie konnte kaum noch atmen. Das Heulen des Windes und das Brechen der Wellen unter ihr wurden lauter, sie stolperte über Sand, Erde, Stein, Grass. Wusste nicht, was mit Simon oder Max oder dem Fremden war der ganz offensichtlich hinter Little her war.
Keine Ahnung haben wohin sie unterwegs war folgte sie einfach dem lediglich durch Mondlicht beschienenen Weg vor ihr, sie erkannte schwach, das er am Meeresrand entlangführte, jedoch schnell von diesem abließ und sich an einer Klippe emporschlängelte. Mit etwas Glück war sie gerade auf dem Weg in Richtung Norwich, und die Sirenen konnten ihr hoffentlich nicht bis ins Landesinnere folgen.
Glücklich darüber, dass sie eine Abzweigung vor sich sah blickte sie auf Little herunter und stolperte fast über ihre Füße. Der Schwarzhaarige hatte seinen Kopf in ihrer Hand vergraben, das Gesicht ganz blass, als wäre er krank, die Arme hingen ihm schlaff herab, sie musste ihn nun mit beiden Händen an sich pressen damit sie ihn nicht verlor auf dem Weg. ‚Nein, nein, nein!' schrie sie in Gedanken.
Was auch immer dafür sorgte, dass es Little plötzlich so schlecht ging, es war mehr als nur ungünstig, dass es jetzt eintrat, während sie von einem seltsamen Mann verfolgt wurde und in die Finsternis hineinlief. Die Abzweigung kam immer näher, sie musste sich entscheiden, wohin sie lief. Würde es Little schlechter gehen, je weiter sie sich vom Meer entfernte? Würde er sterben, wenn sie ihn zu lange vom Wasser fernhielt?
Adriane wendete sich entschlossen zum Meerespfad hin und rannte noch schneller als zuvor, Little wirkte immer schwächer in ihren Händen. ‚Du darfst nicht sterben!' flehte sie ihn an, rannte und rannte was ihre Beine hergaben den Pfad hinauf und merkte viel zu spät, dass sie sich der Klippe näherte, welche sie immer aufsuchte um den Sonnenuntergang zu betrachten.
Laut hallten ihre Schritte nun auf dem Boden wieder, welcher seit hunderten von Jahren eine stolze Sicht aufs Meer preisgab, der Wind heulte fürchterlich unter ihr, riss an ihren Locken, fetzte an ihrem Kleid, klammerte sich an ihre Beine und wollte sie ihr unter dem Körper hinfort reißen, die Wellen leckten an den Gesteinswänden unter ihr empor, der Himmel verdunkelte sich zunehmend, ein Sturm wie Adriane ihn noch nie gesehen hatte tobte direkt über ihr. Und sie stand hier, das Haupt hoch erhoben auf nacktem Fels, außer Atem und ohne Möglichkeit zu fliehen.
‚Little!' sie riss ihre Hände von ihrem Körper fort und führte sie an ihr Gesicht. Der Junge lag auf ihren Handflächen, schien zu schlafen, seine Haut jedoch war fast schneeweiß, seine Flosse hatte ihren wunderschönen Blauton verloren und sie merkte, dass er nicht mehr zitterte wie zu beginn, sein Atem ging keuchend, als würde er keine Luft bekommen, die kleinen Hände tasteten schwach über Adrianes Handfläche, fanden ihren Daumen und sie streichelte ihm sanft über seine Wange mit ihrem Daumen, bedacht, ihn nicht zu verletzten und Wärme zu spenden.
‚Du darfst nicht sterben Little...' flehte sie und schickte ein stummes Gebet zum Himmel empor um wen auch immer zu bitten, den Jungen zu retten.
„Interessant... Ich hätte wirklich damit gerechnet, dass du ins Landesinnere fliehst." Hörte die Blondine die Stimme des Fremden hinter sich, drehte sich erschrocken um und presste Little wieder an sich, drückte seinen kleinen Kopf sanft mit ihrem Daumen an ihren Oberkörper, strich durch seine Haare um sich selber zu beruhigen. Der Mann wirkte ruhig, lächelte so, als würde der Sturm nicht existieren, als wären sie beide alte Bekannte und würden einen gemeinsamen Plausch in einer warmen Taverne abhalten.
„Es stimmt nur teilweise, dass dir dort nichts passieren könnte. Normales Meeresvolk kann dir nicht folgen, dass stimmt schon. Allerdings sieht das bei Nixen und anderen Bewohnern, die der magischen Künste kundig sind etwas anders aus." Der Wind zerzauste die Haare des Brünetten immer weiter, er blieb etwa zweieinhalb Meter vor Audry stehen. Mit Klopfen im Herzen sah sie zu ihm, sie merkte, spürte, dass Littles Herzschlag immer schwächer wurde.
„Er wird sterben." War alles, was der Mann sagte, ein Bedauern in seinen Augen, welches die Blonde nur als Schmerz deuten konnte, als würde er Little kennen, ihn zu seinen engsten Vertrauten zählen. Oder ein noch stärkeres Band mit ihm teilen...
Audry schüttelte nur den Kopf, sie wollte die Gedanken vertreiben, welche sich wie Vögel in ihrem Kopf einnisteten und ihr Herz verdunkelten wie Fledermäuse den Vollmond in manchen Nächten, auch weil sie nicht glauben wollte, was der Mann über Little gesagt hatte. Mitleidig blickte er zu ihr. „Doch. Es tut mir wirklich leid, dir das sagen zu müssen, aber er wird sterben. Wenn man in so einem zarten Alter dem Wasser zu lange fernbleibt, trocknet man aus und stirbt. Der kurze Aufenthalt im Meer war gerade so ausreichend für den Spaziergang zu dir und vielleicht auch noch zurück zum Meer, aber es ist jetzt zu spät dafür."
Audry schüttelte nur noch heftiger den Kopf, sie wollte dem Mann nicht glauben schenken, wehrte sich vehement dagegen, doch ihr Kopf flüsterte ihr sanft zu, dass er Recht hatte. Little ging es schlecht, sehr schlecht und das konnte nicht einfach von einer Krankheit herrühren. Er sah bereits aus wie tot, vermutlich kämpfte er gerade verzweifelt und doch tapfer für jeden weiteren Herzschlag, für jedes bisschen Luft in seiner Lunge, für jeden einzelnen Augenblick, jede verdammte Sekunde, die er noch hier weilte. Kämpfte auf der Schwelle zwischen Leben und Tod.
„Es tut mir auch leid, was vorhin passiert ist. Ich wollte weder dich noch deine Freunde verschrecken, es ist nur so... Mir liegt sehr viel am Wohlergehen dieses Kindes... Und ich wollte ihn unbedingt in Sicherheit wissen, wollte sichergehen, dass er am Leben ist und auch bleibt. Ich hätte mich besser erklären sollen. Ich verlange nicht, dass du mir alles glaubst, aber ich möchte das du weißt, dass ich ihn nie verletzten wollte." Der Mann redete immer leiser, seine Stimme erinnerte gegen Ende seines Satzes nur noch an ein Flüstern. Audry fing an zu weinen, sie wollte nicht, dass Little starb.
Der Mann blickte sie nun direkt an, machte einen Schritt auf sie zu, sie hingegen fürchtete sich immer noch vor ihm, fürchtete sich vor dem, was er tun würde oder könnte, wenn er ihr zu nahe kam. „Ich... Ich möchte zumindest... seine... Leiche... mitnehmen. Bitte, ich flehe dich an..." er sah sie bittend an, seine Augen mit Qualen gefüllt, welche das Mädchen nur zu gut kannte. Die Qual, einen geliebten Menschen zu verlieren.
Doch selbstsüchtig wie sie war weigerte sie sich, ihm den Jungen zu überlassen. Sie schüttelte den Kopf, wich immer weiter zurück, als sie die Kante spürte, der Wind riss immer heftiger an ihr herum und sie hatte Angst wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Angst vor dem Tod. Angst vor dem Fall. Angst vor Verlust. Das Klopfen des Herzens des Jungen glich nun endgültig einem schwachen vibrieren.
„Bitte!" stieß der Mann noch einmal hervor, bevor er auf die Blonde zusetzte, seine Hand ausgestreckt in ihre Richtung, sie hingegen verlor den Halt und fiel. Fiel in die Tiefe, ein stummer Schrei entwich ihr, die Zeit schien still zu stehen. Die Klippe raste an ihrem Gesicht vorbei, das Meer kam immer näher, Wellen würden sie verschlingen, Wasser über ihr zusammenschlagen und sie verzehren, ihre Leiche hinfort spülen als hätte es sie nie gegeben. Fest drückte sie Little an sich, zog ihre Knie an, ihr Rock bauschte sich im beißenden Spiel des Sturmes auf und trieb sie wie eine Stoffpuppe gen dunklem Horizont, die Linie zwischen Heute und Morgen, verwischte wie ein Pinselstrich auf der Leinwand eines grausamen Malers, der gerne mit den Darstellern spielte. ‚Little...' war alles was Audry noch dachte bevor das Wasser unter ihrem Rücken hart deutlich wurde, sie von den Fluten eingesogen wurde und über ihr das kalte Nass zusammenschlug wie das feuchte Grab, welches es wohl für sie bilden würde. Der Aufprall trieb Audry kostbaren Atem aus ihren Lungenflügeln, betäubte jedoch ebenso ihre Muskeln als sie stumm nach unten sank, die Strömung riss die Luftblasen über ihr mit sich fort, lies sie in einem wilden Tanz gen Gewitter treiben und sie musste zugeben, dass es ein wunderschönes Bild war, welches ihr vor ihrem Tod beschert wurde, als sie ihre Augen schloss, der Kopf schwer, die Lunge schmerzte, den Kleinen an sich gepresst. Sie würde ihn lächelnd begleiten, gemeinsam würden sie beide ihren Weg antreten in das Reich des Schnitters.
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Die kleine Sirene
Romansa- Was wäre, wenn du eine Sirene treffen würdest? Was würdest du tun? Was wäre das erste an was du denkst? Geld? Liebe? Ruhm? Oder etwas ganz anderes? Und was wäre, wenn sich eine Sirene in dich verliebt, entgegen aller Gesetzte? - Bei Sturm zur See...